Der Kunstgriff: Cathy Marston choreografierte Ian McEwans "Atonement"

Hans Pfleiderer • 26. Mai 2024

Essay - bilingual

„Wir wissen alle, dass Kunst nicht Wahrheit ist. Kunst ist eine Lüge, die uns die Wahrheit begreifen lehrt, wenigstens die Wahrheit, die wir als Menschen begreifen können.“ Pablo Picasso

Die Faszination des Balletts und die innovative Kraft von Cathy Marston als britische Choreografin kommen besonders deutlich zum Ausdruck, wenn man ihr jüngstes Werk, eine Adaption von Ian McEwans Roman „Atonement“ (deutsch: „Abbitte“) aus dem Jahre 2001, betrachtet. An das gleichnamige, vielfach preisgekrönte Filmdrama von Regisseur Joe Wright aus dem Jahre 2007 sei hier auch verwiesen, besonders weil es um gewisse künstlerische Freiheiten geht, auf die ich später noch näher eingehen werde. Marston, die für ihre erzählerisch starken und emotional fesselnden Ballettproduktionen bekannt ist, brachte diese Hommage an das literarische Meisterwerk auf die Bühne des Zürcher Balletts, das sie seit Beginn der Spielzeit 2023/24 leitet.


Cathy Marston, 1975 in Newcastle upon Tyne, England, geboren, hat ihre Karriere als Tänzerin beim Zürcher, Luzerner und Berner Ballett begonnen, bevor sie sich mehr auf das Choreografieren konzentrierte. Ihr einzigartiger Stil verbindet Elemente des klassischen Balletts, wobei Spitzenschuhe nicht fehlen dürfen, mit zeitgenössischen Tanztechniken, um komplexe Geschichten auf der Bühne zum Leben zu erwecken. Sie legt großen Wert auf narrative Klarheit und emotionale Tiefe, wobei sie Gestik und Mimik intensiv einsetzt, um die innere Welt der Charaktere darzustellen. Ihre Choreografien kombinieren die Präzision des klassischen Balletts mit der Expressivität des modernen Tanzes und sind oft eng mit der Musik verwoben, um eine tiefere emotionale Wirkung zu erzielen. Marston nutzt den Bühnenraum und das Bühnenbild kreativ und ermutigt ihre Tänzer zur Improvisation und Bewegungsforschung, die auch mal Möbel oder verschiedenste Requisiten mit einbeziehen, um individuelle, fließende Ausdrucksformen zu finden. Ihre Werke sind häufig von literarischen Werken, Biografien oder historischen Ereignissen inspiriert und streben nach physischer und emotionaler Authentizität, was ihre Choreografien sowohl narrativ als auch bewegungstechnisch komplex und tief bewegend macht. Einige davon sind „Jane Eyre“, „The Cellist“ und „Victoria“.


Bei einer öffentlichen Probe im Übungssaal und einer Kostprobe dieses neuen Projekts auf der Hauptbühne konnte ich am 16. September 2023 beim Eröffnungsfest zur Saisoneröffnung des Ballet Zürich einen ersten Eindruck von Marstons Arbeit gewinnen. Die Probe zeigte deutlich ihre Fähigkeit, mittels expressiver Gesten die psychologischen und emotionalen Aspekte der Charaktere durch Tanz auszudrücken. Diese Fähigkeit wurde auch von Andreas Homoki, dem Operndirektor, bei der Premierenfeier am 28. April 2024 hervorgehoben, als er sagte: „Cathy Marston verwendete einen Kunstgriff“, um die vielschichtige Narration des Romans in ihre Choreografie einzubinden. Die Reaktionen des Publikums, so wie ich sie oben auf dem Balkon mitbekommen hatte, waren gemischt, was teilweise auf die heterogene, fragmentarische Natur des Ausgangsmaterials und seiner Umsetzung zurückzuführen war. So fragte ich mich, ob es ohne Programmheft, vorherige Lektüre oder das Schauen des Kinofilms ausreichend sei, das Stück zu verstehen. Die erste Szene hatte etwas verspieltes, idyllisches und naives. Eine der Tänzerinnen, die ich sofort mit Briony assoziierte, durchschritt demonstrativ wie ein Kind den Bühnenraum. Geflüsterte Kommentare wie „Das ist eine Groteske!“ und „Verstehst du etwas?“ spiegelten die anfänglichen Schwierigkeiten wider, die einige Zuschauer hatten, die Geschichte zu erfassen. Behandelt das Buch doch ernsthaft und ohne jede Farce die Themen von Unschuld, Schuld, Macht und Vergebung, lies sich Marston leider dazu hinreißen, eine Reihe der typischen Klischees und Stereotypen von übertriebenen Gesten, die sowohl im Theater als auch in der Oper verwendet werden, zu verwenden.

Vor dem Schreiben meines Essays las ich den Roman aufmerksam durch, schon allein deswegen, weil ich den Meister persönlich bei der Premierenfeier auf der Hauptbühne traf und mit ihm locker über Gott und die Welt sprach. Ian McEwans Roman ist strukturell sehr durchdacht. Der Autor und sein Werk „Atonement” können als Vertreter der Postmoderne betrachtet werden, da sie meta-fiktionale Elemente, Intertextualität, komplexe Erzählstrukturen, Subjektivität und die Vermischung von Realität und Fiktion aufweisen. Der erste Teil des Buches, der in der Mitte der 1930er Jahren spielt, reflektiert die geordnete, routinierte Welt des englischen Landhauses und der Protagonisten an einem heißen Sommertag vor dem Einbruch des Chaos. Briony Tallis, eine der Hauptfiguren, schreibt diese Teile der Geschichte aus ihrer Perspektive und versucht, wie man später versteht, retrospektiv die Ereignisse detailliert zu rekonstruieren. Die nummerierte Kapitelstruktur kann als Versuch Brionys interpretiert werden, Ordnung und Klarheit in ihre Erinnerung und die Darstellung der Ereignisse zu bringen. Diese Struktur wird in den späteren Teilen, die während des Zweiten Weltkriegs und in den Reflexionen der erwachsenen Briony spielen, aufgeweicht, was die unsichere und turbulente Natur dieser Zeiten widerspiegelt. Der zweite Teil aus den Augen von Robbie Turner, der während den Anfängen des Zweiten Weltkriegs in Frankreich spielt, wechselt zu einem intensiveren, unmittelbaren, quasi dokumentarischen Stil. Die Struktur bricht durch die fehlende Nummerierung mit der vorherigen Ordnung und unterstreicht den Bruch in den Leben der Charaktere. Im dritten Teil des Buches, aus der Sicht Brionys als erwachsene Schriftstellerin, wird die Struktur noch freier, was ihre reifere, aber auch neurotische und weniger geordnete Sichtweise widerspiegelt. Diese strukturellen Entscheidungen von McEwan verstärken die thematische Komplexität und emotionalen Aspekte der Geschichte und kulminieren in einem Happy End der Liebenden. Wäre da nicht die berühmt-berüchtigte Coda, ein etwa 20-seitiger Epilog mit einem Geständnis und dem abscheulichen Vermächtnis unserer Heldin, unserer kaltblütigen Erfinderin, die es immer noch vorzieht, ihr Geheimnis der Diffamierung vor den Überlebenden der betroffenen Familien zu wahren und mit ins Grab zu nehmen. Robbie und Cecilia, wie zu erahnen war, sind schon lange tot. Und Brionys Wunsch, die Geschehnisse und die Akteure post mortem für alle Zeit auszulöschen, mag ihr auch gelingen. Denn sie wird dement. 


„Atonement“, was genauso gut „Indictment“ hätte heißen können, ist weder eindeutig ein psychologischer Diskurs noch eine reine Kriminalgeschichte, sondern ein vielschichtiges Werk, das Elemente beider Genres integriert. Der psychologische Aspekt des Romans zeigt sich in den tiefen Schuld- und Reuegefühlen der Protagonistin Briony Tallis, während die kriminellen Elemente durch die falsche Anschuldigung und die mangelnde Untersuchung der Wahrheit zum Ausdruck kommen. Zu den zentralen psychologischen Aspekten gehören der Konflikt, dass Brionys falsche Anschuldigung gegen Robbie Turner zu seiner Verurteilung als Vergewaltiger und der Zerstörung seines Lebensglücks mit ihrer Schwester Cecilia führt. Dies führt zu lebenslangen Schuldgefühlen und dem Wunsch nach Abbitte. Der Roman untersucht, wie diese Schuld ihr Leben und das Leben anderer beeinflusst. Brionys kindliche Missverständnisse und ihre spätere Reflexion darüber bleiben das zentrale Thema, das die subjektive Natur der Wahrnehmung und Erinnerung oder Interpretation im Gegensatz zur Realität untersuchen. Die Charakterentwicklung, insbesondere Brionys Übergang vom Kind zur erwachsenen Schriftstellerin, ist abrupt und von brutaler Selbstüberschätzung. Der Roman erforscht, wie ihre Identität und ihr Selbstverständnis durch ihre Taten und ihre Versuche der Wiedergutmachung geformt werden. Die kriminellen Elemente sind ebenso präsent. Die falsche Beschuldigung von Robbie Turner wegen eines Verbrechens, das er nicht begangen hat, und das willentliche Schweigen der Mitwisser sind die zentralen kriminellen Taten des Romans und der Antrieb für die gesamte Handlung. Dann ist da noch ein Brief, ein Indiz auf eine Literaturform des 19. Jahrhunderts. Wie in einer Kriminalgeschichte gibt es eine Untersuchung der Wahrheit hinter dem Verbrechen. Der Roman deckt nach und nach die Missverständnisse und Fehlinterpretationen auf, die zur falschen Beschuldigung geführt haben. Die Themen Gerechtigkeit und Strafe sind ebenfalls präsent. Die Frage, ob und wie Briony für ihre Taten büßen kann und ob Robbie und Cecilia Gerechtigkeit durch Abbitte erfahren, zieht sich durch die gesamte Geschichte, löst sich aber mit dem Verstand der vereinsamten Hauptfigur auf.


Marston übernahm im ersten Akt das Narrativ der Romanvorlage in abgespeckter Form und beschränkte sich auf die dominante Perspektive der heranwachsenden 13-jährigen Briony Tallis, die sukzessive totale Kontrolle und eine pathologische Boshaftigkeit an den Tag legt. Aber von ihrer kindlichen Unschuld und Kreativität als Jungautorin geht eine annähernd perverse Faszination aus. Ironischerweise liegt es nahe, dass sich Frau Marston mit diesem Mädchen und dem Charakter der Weltenzauberin identifiziert hatte. Nur so war es zu verstehen, dass aus einer introvertierten, ruminierenden Schriftstellerin in der Romanvorlage eine gefeierte Choreografin auf der Bühne geworden war. McEwan verwendet in seinem Roman eine komplexe, multidimensionale Erzählstruktur und spielt mit verschiedenen Perspektiven, was dem Werk zusätzliche Tiefe verleiht. Marstons Herausforderung bestand darin, dieses literarische Kaleidoskop und die emotionale Intensität in eine tänzerische Form zu übersetzen. Dabei wurde sie in kongenialer Weise durch die minimalistischen Abstraktionen des Bühnenbildners Michael Levine unterstützt. Sie verwendete für ihre Figuren typische Bewegungen, Gesten und Kostüme wie Signaturen, die sie beibehielten oder immer wieder wiederholten und unterstrich diese durch musikalische Leitmotive, die eingebettet in einer atmosphärischen Melange aus Stilen von der britischen Komponistin Laura Rossi komponiert wurden. Erst die Musik macht bekanntlich den Tanz lebendig. Als kleines Detail entdeckte ich, dass sich die Tänzer und Tänzerinnen entsprechend ihrem Alter am Schuhwerk unterschieden. Die Kinder und Jugendlichen trugen Schläppchen, die weiblichen Erwachsenen Spitze und die Männer Lederschuhe. Aber das sommerliche Vergnügen mit hübschen kindlichen Darbietungen eskalierte schnell zu einem hitzigen Rausch an Gefühlen zwischen dem jungen Mann Robbie, dem Sohn der Magd, und Brionys älterer Schwester Cecilia. Ein leider viel zu formales Pas de deux endet erwartungsgemäß in einer leidenschaftlichen Liebesszene. Bald aber überschlugen sich die Ereignisse, als die beiden kleinen Jungen verschwanden und die Vergewaltigung des Mädchens Lola die Klimax des ersten Aktes bildete. Robbie, der in den Augen der eifersüchtigen Briony einen lüsternen Triebtäter darstellte, wird zu Unrecht beschuldigt und unter den verzweifelten, aber vergeblichen Protesten von Cecilia von Polizistin abgeführt. Der Vorhang fällt. 

Der zweite Akt des Tanzstückes begann mit einer Wiederholung der Verhaftungsszene aus dem ersten Akt in einer Variation, die möglicherweise eine weitere Stufe der Erinnerung der Geschehnisse aus den Augen von Briony darstellte. Es fiel auf, dass immer wieder Figuren auftauchten, die beobachtend dabeistanden, wiederum von anderen beobachtet wurden und wir als Zuschauer dasselbe taten. Die selbe Methode der Überwachungskette wählte Marston in der darauffolgenden Szene, die eine stilisierte Tanzprobe zeigte, in der Tänzerinnen an der Stange probten. Neue Figuren schauen dem Geschehen zu, während im Hintergrund ein Männerensemble ein Bild vom Häftlingsalltag in Szene setzt. Diese Gruppe besteht aus 12 Tänzern, einer Lieblingsformation der Choreografin, die damit wahrscheinlich Ordnung ausdrücken wollte. Diese Szene hatte sie allerdings dem Tanzstück als Erklärung beigefügt, was im Buch und auch im Spilefilm so nicht vorkommt. Robbies Haft kann man erahnen und ein radikales Weglassen spricht für die Ökonomie des Romanschreibens. Im Tanzstück ging es nahtlos in eine weitere hinzugefügte, erläuternde Szene über. Sie zeigt eindringlich die Rekrutierung der Insassen durch die Britische Armee und stimmte uns auf den bevorstehenden Krieg ein. Er fordert Soldatenopfer und zurückgebleibene, trauernde Frauen und Mütter, die Hoffnungen hegten, ihre Liebsten jemals wiederzusehen. Das hofft auch Cecilia, die zu Kriegszeiten zuhause als Krankenschwester diente und auf Robbie wartete. „Ich warte auf dich. Komm zurück.“ Briony spielte immer wieder Gott, indem sie viele Rollen übernahm. Mal war sie kindliches Protegé, dann Choreografin mit Gasmaske, was von einer Kuriosität, einem fotografischen Fundstück einer Tänzerin aus Paris von 1939, hergeleitet wurde, und die ständige Beobachterin. Sie unternahm sogar die Anstrengungen, sich ebenfalls als Krankenschwester verdient zu machen. Immer wieder im Verlauf des Stückes verwendete Marston Gruppenformationen von einem Dutzend Tänzerinnen, die in verschiedenen Variationen und Kombinationen mit Einzelcharakteren interagierten. Mal folgten sie konventionellen Abläufen, mal bildeten sie Formationen, die wie das bedrohliche Bild eines Stukageschwaders wirkten. Irgendwann regnete es theatralische Blutstropfen auf die Bühne, die für die vielen Gefallenen standen, die im Inferno des verzweifelten Rückzugs der britischen Truppen bei Dünkirchen ihr Leben ließen. Wer im sichtlichen Wirrwarr der Figuren und der Hektik der Choreografien noch mitkam, erkannte, dass das Vergewaltigungsopfer und der wahre Täter den Bund der Ehe eingingen, was ein weiterer Clou auf die Wahrheit darstellte. Der Ehezeremonie des Paares wurde ein Double, was zusammen eine Vergewaltigungsszene mimt, beigefügt.


Die Coda, der überraschende Kunstgriff, wurde im Tanzstück nach dem zweiten Vorhang, dem vermeintlichen Ende und obligatorischen Klatschen der Zuschauer, zum dritten Akt. Er wurde abweichend vom Buch sowohl im Kinofilm als auch im Tanzstück abgeändert, was man unter künstlerischer Freiheit verstehen könnte. Im Buch besuchte die mittlerweile 77-jährige Briony das ehemalige elterliche Anwesen, was zum Hotel umfunktioniert wurde, und hörte überraschenderweise ihr Erstlingswerk The Trials of Arabella, welches sie als 11-jährige verfasste. In einer kindlichen Lesung eines ihrer Großneffen versetzen ihre eigenen Worte sie in Verwunderung und Verzückung: „Ich hatte einen Zaubertrick erwartet, aber was ich hörte, klang übernatürlich.“ Dann gleitete sie in einen inneren Monolog ab und bekannte ihre Verbrechen. Im Film stellt sich Frau Tallis in einer Talkshow einem Fernsehmoderator und gesteht, dass auch ihr letztes Buch eine Lüge ist und die Wahrheit weder den Toten noch ihren Lesern dienlich sei. Im Tanzstück bediente sich Marston einem vom Dramaturgen Edward Kemp geschriebenen Text, der inhaltlich fast identisch ist mit dem Interview aus dem Kinofilm und als abgespielte Tonbandaufzeichnung aus dem Off tönte, welches einem filmischen Voiceover gleichkam. Leider wurde dadurch die Brillianz und Präzision der Romanvorlage in ein gefälliges Melodrama verwandelt. Damit haben beide, Regisseur und Choreografin, folgenden Satz aus der originalen Coda erfolgreich umgesetzt: „In ihrer Fantasie hat sie die Grenzen und Bedingungen festgelegt.“

Cathy Marston hatte mit ihrer Adaption von „Atonement“ versucht, die Raffinesse der Literatursprache in Gesten und Bewegungen zu übertragen, was in Anbetracht der Komplexität der Vorlage höchst ambitioniert, aber auch gewagt war. Literatur besitzt die einzigartige Fähigkeit, Gedanken durch Sprache in präzise Sätze, Worte und logische Strukturen zu fassen. Autoren können innere Monologe, komplexe Ideen und fein nuancierte Emotionen detailliert beschreiben und die Leser in die tiefsten Ebenen der Charaktere und ihrer Welt eintauchen lassen. Dies geschieht durch die bewusste Wahl von Wörtern, Satzkonstruktionen und dem Aufbau von narrativen Strukturen, die den Lesern ermöglichen, sich gedanklich und emotional mit den Inhalten zu verbinden. Da das Medium Film in der Regel auch mit Sprache operiert, basieren Filme meistens auf einem Buch und machen was ganz ähnliches. Im Gegensatz dazu drückt sich Tanz durch ein Repertoire von Gesten, Handlungsabläufen und Bewegungen aus, die aus verschiedenen Traditionen wie dem klassischen Ballett, der Moderne, der Oper oder dem Tanztheater stammen. Diese physischen Ausdrucksformen schaffen Stimmungen, Motive und Emotionen, die durch die synergetische Wirkung von Musik, Bühnenbild und Inszenierung verstärkt werden. Tänzer und Tänzerinnen nutzen die Körper als Instrument, um Geschichten zu erzählen und emotionale Zustände zu vermitteln, wobei jede Bewegung und jeder Schritt eine Bedeutung tragen sollte. Nichts ist zufällig. Die visuelle und auditive Dimension des Tanzes erlaubt es dem Publikum, die dargestellten Emotionen und Geschichten auf einer sinnlichen Ebene zu erleben, was Worte in der Regel überflüssig macht. Marston dagegen machte sich der Worte gleich an zwei Stellen untertan.


Zusammengefasst nutzt Literatur die präzise Macht der Sprache, um Gedanken und Gefühle direkt zu artikulieren, während Tanz durch körperliche Ausdrucksformen und die Integration von Musik und visuellem Design eine unmittelbare emotionale Erfahrung schafft. Beide Kunstformen haben ihre eigenen Mittel und Wege, um tiefe menschliche Erlebnisse zu vermitteln, und bieten einzigartige Wege, um die inneren und äußeren Welten der Menschen darzustellen. Ist die Brücke zwischen Literatur und Tanz vielleicht jene Brücke auf die Insel im Park des Landhauses, wo die nächtliche Gewalttat stattfand und für die man in der absoluten Dunkelheit der Realität Bilder der Inspiration sucht? Sowohl die narrative Komplexität als auch die emotionale Tiefe des Romans und seiner Adaptionen oder Inkarnationen fangen das auf beeindruckende Weise ein. Marstons Fähigkeit, Geschichten durch Tanz zu erzählen, setzte auf jeden Fall neue Maßstäbe für das narrative Ballett und zeigte, dass Ballett als erzählerisches Medium ebenso kraftvoll sein kann wie eine literarische Vorlage oder das Medium Film selbst. Die Stärke der Fiktion liegt gerade in der Vielschichtigkeit und in der Fähigkeit, verschiedene Genres, sowie narrative und thematische Elemente zu einem kohärenten und fesselnden Ganzen zu verweben.


Das ca. zweieinhalbstündige Stück ist eine Koproduktion mit dem Joffrey Ballet aus Chicago und noch bis Ende Juni 2025 am Opernhaus Zürich zu sehen.


Bildnachweis: Ballet Zürch Pressefotos - Admill Kuyler


https://www.opernhaus.ch/spielplan/kalendarium/atonement/2023-2024/





The artifice: Cathy Marston choreographed Ian McEwan's "Atonement"

Essay by Hans Pfleiderer, May 24, 2024

The fascination of ballet and the innovative power of Cathy Marston as a British choreographer are particularly evident in her most recent work, an adaptation of Ian McEwan's 2001 novel "Atonement". The award-winning 2007 film drama of the same name by director Joe Wright should also be mentioned here, particularly because it deals with certain artistic liberties, which I will discuss in more detail later. Marston, who is known for her narratively strong and emotionally gripping ballet productions, brought this homage of the literary masterpiece to the stage of the Zurich Ballet, which she has been helming since the start of the 2023/24 season.


Cathy Marston, born in Newcastle upon Tyne, England, in 1975, began her career as a dancer with Zurich, Lucerne and Bern Ballet before focusing more on choreography. Her unique style combines elements of classical ballet, certainly with pointe shoes, with contemporary dance techniques to bring complex stories to life on stage. She places great emphasis on narrative clarity and emotional depth, using gestures and facial expressions intensively to portray the inner world of the characters. Her choreography combines the precision of classical ballet with the expressivity of modern dance and is often closely interwoven with music to achieve a deeper emotional impact. Marston uses the stage space and sets creatively and encourages her dancers to improvise and explore movement, sometimes incorporating furniture or various props to find individual, fluid forms of expression. Her works are often inspired by literary works, biographies or historical events and strive for physical and emotional authenticity, making her choreographies both narratively and movement-wise complex and deeply moving. Some of these include "Jane Eyre", "The Cellist" and "Victoria".


I was able to get a first impression of Marston's work at a public rehearsal in the rehearsal hall and a taste of this new project on the main stage on September 16, 2023 at the opening party for Ballet Zurich's season opening. The rehearsal clearly demonstrated her ability to express the psychological and emotional aspects of the characters through dance using expressive gestures. This ability was also highlighted by Andreas Homoki, the opera director, at the premiere celebration on April 28, 2024, when he said: "Cathy Marston used an artifice" to incorporate the novel's multi-layered narrative into her choreography. Audience reactions, as I had witnessed them up in the balcony, were mixed, partly due to the heterogeneous, fragmented nature of the source material and its execution. So I wondered whether it would be enough to understand the play without a program booklet, prior readings or watching the movie. The first scene had something playful, idyllic and naive about it. One of the dancers, whom I immediately associated with Briony, demonstratively paced the stage like a child. Whispered comments such as "This is a grotesque!" and "Do you understand anything?" reflected the initial difficulties some audience members had in grasping the story. While the book treats the themes of innocence, guilt, power and forgiveness seriously and without any farce, Marston unfortunately got carried away with using a number of the typical clichés and stereotypes of exaggerated gestures known to be used in both theater and opera.


I read the novel carefully before writing my essay, if only because I met the master himself at the opening night party on the main stage after the show and chatted casually with him about anything under the sky. Ian McEwan's novel is structurally very well thought out. The author and his work "Atonement" can be seen as representatives of postmodernism, as they feature meta-fictional elements, intertextuality, complex narrative structures, subjectivity and the blending of reality and fiction. The first part of the book, set in the mid-1930s, reflects the orderly, routine world of the English country house and the protagonists on a hot summer's day before the onset of chaos. Briony Tallis, one of the main characters, writes these parts of the story from her perspective and, as is later understood, attempts to reconstruct the events in retrospective detail. The numbered chapter structure can be interpreted as Briony's attempt to bring order and clarity to her memory and account of events. This structure is softened in the later parts set during the Second World War and in the adult Briony's reflections, reflecting the uncertain and turbulent nature of these times. The second part, from the eyes of Robbie Turner, set in France during the early days of the Second World War, shifts to a more intense, immediate, quasi-documentary style. The structure breaks with the previous order due to the lack of numbering and emphasizes the break in the characters' lives. In the third part of the book, from Briony's point of view as an adult writer, the structure becomes even freer, reflecting her more mature but also neurotic and less orderly perspective. These structural choices by McEwan reinforce the thematic complexity and emotional aspects of the story, culminating in a happy ending for the lovers. Were it not for the infamous coda, a 20-odd page epilogue with a confession and the heinous legacy of our heroine, our cold-blooded inventor who still prefers to keep her secret of defamation from the survivors of the families involved and take it to her grave. Robbie and Cecilia, as you might have guessed, are long dead. And Briony's wish to erase the people involved and the players post mortem for all time may also succeed, because she becomes demented.


"Atonement", which could just as easily have been called "Indictment", is neither clearly a psychological discourse nor a pure crime story, but a multi-layered work that integrates elements of both genres. The psychological aspect of the novel is reflected in the protagonist Briony Tallis' deep feelings of guilt and remorse, while the criminal elements are expressed through the false accusation and the failure to investigate the truth. The central psychological aspects include the conflict that Briony's false accusation against Robbie Turner leads to his conviction as a rapist and the destruction of his happiness in life with her sister Cecilia. This leads to lifelong feelings of guilt and a desire for atonement. The novel explores how this guilt affects her life and the lives of others. Briony's childhood misunderstandings and her later reflection on them remain the central theme, exploring the subjective nature of perception and memory or interpretation as opposed to reality. The character development, particularly Briony's transition from child to adult writer, is abrupt and of brutal hubris. The novel explores how her identity and self-image are shaped by her actions and her attempts to make amends. The criminal elements are equally present. The false accusation of Robbie Turner for a crime he did not commit and the willful silence of confidants are the central criminal acts of the novel and the impetus for the entire plot. Then there is a letter, an indication of a 19th century literary form. As in a detective story, there is an investigation into the truth behind the crime. The novel gradually uncovers the misunderstandings and misinterpretations that led to the false accusation. The themes of justice and punishment are also present. The question of whether and how Briony can atone for her actions and whether Robbie and Cecilia will receive justice through atonement runs through the entire story, but resolves itself with the fading mind of the lonely woman.



In the first act, Marston adopted the narrative of the original novel in an abbreviated form and focused on the dominant perspective of the adolescent 13-year-old Briony Tallis, who gradually displays total control and pathological malice. But there is an almost perverse fascination with her childlike innocence and creativity as a young author. Ironically, it stands to reason that Mrs. Marston identified with this girl and the character of the worldly wizard. This was the only way to understand why an introverted, ruminating writer in the original novel had become a celebrated choreographer on stage. McEwan uses a complex, multidimensional narrative structure in his novel and plays with different perspectives, which gives the work additional depth. Marston's challenge was to translate this literary kaleidoscope and emotional intensity into a dance form. In doing so, she was congenially supported by the minimalist abstractions of set designer Michael Levine. She used typical movements, gestures and costumes for her characters like signatures, which they retained or repeated again and again, and underlined these with musical leitmotifs embedded in an atmospheric melange of styles composed by the British composer Laura Rossi. As we all know, it is the music that brings the dance to life. As a small detail, I discovered that the dancers differed in their footwear according to their age. The children and teenagers wore slippers, the female adults wore pointe and the men  leather shoes. But the summery fun with puppet theatre and lemonade quickly escalated into a heated frenzy of emotions between the young man Robbie, the maid's son, and Briony's older sister Cecilia, daughter of well-to-do family. An unfortunately far too formal pas de deux ends, as expected, in a passionate love scene. However, events soon came thick and fast when the two young boys disappeared and the rape of the girl Lola formed the climax of the first act. Robbie, who in the eyes of the jealous Briony was a lecherous sex offender, is falsely accused and taken away by the police to the desperate but futile protests of Cecilia. The curtain falls. 


The second act of the dance piece began with a repetition of the arrest scene from the first act in a variation that possibly represented a further stage of remembering the events through Briony's eyes. It was noticeable that characters kept appearing, standing by watching, being watched by others and we, the audience, doing the same. Marston chose the same method of the chain of surveillance in the following scene, which showed a stylized dance rehearsal in which dancers were rehearsing on the pole. New suspicious figures watch the action, while in the background a male ensemble stages an scene of everyday life in prison. This group consists of 12 dancers, a favorite formation of the choreographer, who probably wanted to express forced order. However, she had added this scene to the dance piece as an explanation, which does not appear in the book or the movie. Robbie's imprisonment was self-evident and a radical omission speaks to the economy of writing a novel. In the dance piece, there was a seamless transition into another added, explanatory scene. It vividly showed the recruitment of the inmates by the British army and prepares us for the impending war. It calls for soldiers' sacrifices and grieving wives and mothers left behind who had hopes of ever seeing their loved ones again. Cecilia, who served as a nurse at home during the war and waited for Robbie, hopes the same. "I'm waiting for you. Come back." Briony played God again and again, taking on many roles. At times she was a child protégé, then a choreographer with a gas mask, which was derived from a curiosity, a photographic find of a dancer from Paris in 1939, and the constant observer. She even made the effort to excel as a nurse as well. Throughout the piece, Marston used group formations of a dozen dancers who interacted with individual characters in different variations and combinations. Sometimes they followed conventional sequences, sometimes they formed formations that looked like the menacing image of a squadron of Stukas. At one point, theatrical drops of blood rained down on the stage, representing the many fallen soldiers who lost their lives in the inferno of the British troops' desperate retreat at Dunkirk. Those who were still able to keep up with the visible confusion of the characters and the hectic choreography realized that the rape victim and the real perpetrator had entered into a marriage, which was another clou on the truth. A double miming a rape scene together was added to the couple's marriage ceremony.


The coda, the surprising artifice or trick, became the third act in the dance piece after the second curtain, the supposed end causing the audience to their obligatory clapping. In contrast to the book, it was changed in both the movie and the dance piece, which could be understood as artistic freedom. In the book, the now 77-year-old Briony visits her parents' former estate, which has been converted into a hotel, and surprisingly listens to her first work, The Trials of Arabella, which she wrote when she was 11 years old. In a childlike reading by one of her great-nephews, her own words left her astonished and entranced: „I’d been expecting a magic trick, but what I heard had the ring of the supernatural." Then she slipped into an inner monologue and confessed her crimes. In the film, Mrs. Tallis confronts a television presenter on a talk show and confesses that her last book is also a lie and that the truth serves neither the dead nor her readers. In the dance piece, Marston used a text written by dramaturge Edward Kemp, which is almost identical in content to the interview from the movie and played as a tape recording from the off, which resembled a cinematic voiceover. Unfortunately, this turned the brilliance and precision of the original novel into a pleasant melodrama. Both director and choreographer thus successfully realized the following sentence from the original coda: "In her imagination she has set the limits and the terms."


With her adaptation of "Atonement", Cathy Marston had attempted to translate the sophistication of the literary language into gestures and movements, which was highly ambitious but also daring given the complexity of the original. Literature has the unique ability to express thoughts through language in precise sentences, words and logical structures. Authors can describe inner monologues, complex ideas and finely nuanced emotions in detail and immerse the reader in the deepest levels of the characters and their world. This is done through the deliberate choice of words, sentence construction and the building of narrative structures that allow readers to connect mentally and emotionally with the content. Since the medium of film usually also operates with language, films are usually based on a book and do something very similar. In contrast, dance expresses itself through a repertoire of gestures, action sequences and movements that originate from various traditions such as classical ballet, modern dance, opera or dance theater. These physical forms of expression create moods, motifs and emotions that are reinforced by the synergetic effect of music, stage design and staging. Dancers use the body as an instrument to tell stories and convey emotional states, whereby every movement and every step should carry a meaning. Nothing is accidental. The visual and auditory dimension of dance allows the audience to experience the emotions and stories portrayed on a sensory level, which usually makes words superfluous. Marston, on the other hand, deployed words in not less than two places.


In summary, literature uses the power of language to articulate thoughts and feelings directly, while dance creates an immediate emotional experience through physical expression and the integration of music and visual design. Both art forms have their own means of conveying deep human experiences and offer unique ways of portraying people's inner and outer worlds. Is the bridge between literature and dance perhaps that literally bridge to the island in the park of the country house where the night-time violence took place and for which images of inspiration are sought in the absolute darkness of reality? Both the narrative complexity and the emotional depth of the novel and its adaptations or incarnations capture this impressively. Marston's ability to tell stories through dance certainly set new standards for narrative ballet and showed that in our times ballet as a narrative medium can be just as powerful as a literary source or the medium of film itself. The strength of fiction lies precisely in its complexity and its ability to weave different genres as well as narrative and thematic elements into a coherent and captivating whole.


The approximately two-and-a-half-hour piece is a co-production with the Joffrey Ballet from Chicago and can be seen at Opernhaus Zürich until the end of June 2025.


Picture credits: Ballet Zurich press photos - Admill Kuyler


https://www.opernhaus.ch/spielplan/kalendarium/atonement/2023-2024/

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The novel The Great Gopnik (Большой Гопник) by Viktor Yerofeyev is a biting satire that describes the influence of the Gopnik-spirit on Russian society: From the streets to the Kremlin, a mentality of ruthlessness, opportunism and strength at all costs reigns. Chapter 1: Introduction In this book, Viktor Jerofejew describes a dark and satirical vision of today's Russia. The title refers to the figure of the "gopnik", a common stereotype in Russia of a petty criminal, usually an unemployed and violent young man from the lower classes, often in tracksuits and with a penchant for brute force. Yerofeyev means an exaggerated, almost mythical version of this type - an embodiment of brutal power that extends to the highest political and social levels. It is a metaphor for the current Russian state leadership, which rules through authoritarian methods, intimidation, corruption and violence. Some interpretations see this figure as an allusion to President Vladimir Putin and Russia's political system, which is increasingly permeated by mob-style structures. It tells of Putin's unstoppable rise to the top of the state and presents him as the embodiment of this species of rowdy, who sees the Russian empire as a kind of fairytale world that needs to be saved from the influences of Europe and America. At the same time, the author himself acts as his antagonist and offers a literary explanation for current events in Russia. The novel is divided into short chapters, that alternate between different perspectives, time frames and layers of meaning. This structure reflects the complexity and chaos of Russian reality. A reoccurring hint the size of a billboard is the date of February 24, 2022, the day of the Russian attack on Ukraine, runs like a thread through the book and is reflected in italicized passages that express the author's thoughts and feelings. Overall, the book offers an in-depth analysis of Russian society and its political leadership, wrapped up in a literary work that combines elements of autobiography, essay and fiction, a masterful and compelling novel that explores the human and systemic drama of today’s Russia, set against a backdrop of chaos, transformation, and deep societal unrest. Chapter 2: The Joycean attempt riffing on unfamiliar words Moscow under a sky like wet fabric over dull gold Ivan Tsarevich steps through glass into a city that has forgotten him or knows him too well no music only machines breath of metal shadows await the air as heavy as oil his heart beats out of sync with the times no star only neon that never blinks cold fingers grasp rules bend through corridors without doors faces mute voices hollow the Great Gopnik towers over maps without people only borders only blood Ashes fall like snow, tanks roll by, a woman stands with a child, breath freezes, hunger does not, Alexei falls, the film continues, the hero becomes a number, is forgotten, men freeze in cells without light, their breath paints shadows in a system that knows no people, only guilt. Then, much later, the news out of nowhere: Alexei Navalny is dead, they say, but the name lives on in whispers. Ivan rides through forests, through nights, through a Russia that may awaken or may never! And so the fairy tale ends The great Gopnik sits on bones In front of him, maps without people Only borders, ice, blood Smoke rises like snow While houses burn Streets empty A woman with a child Breath frozen, hunger hot A power plant falls Sparks extinguish Snow on the ruins and dead Alexei falls Uniforms await The hero becomes a number, is forgotten Men freeze in cells Their bodies only guilt in the system Later the news hits Alexei Navalny is dead they say But what is death When the name continues to whisper Chapter 3: Literary influences The grotesque legacy of Russian literature rumbles in Viktor Yerofeyev's work. He is a literary master blaster. His novels and essays unfold like an abysmal carnival festival in which violence, madness and sarcasm collide. But his work does not exist in a vacuum - it is deeply rooted in Russian and European literary history. Six great writers have influenced his style, and in each of their characters there is an echo of Yerofeyev's over-the-top narrative style. Yerofeyev combines these influences to create an independent style that oscillates between satire, philosophy and radical provocation. Viktor Yerofeyev stands in the tradition of the Russian literary avant-garde and absurd realism. His most important role models and influences are: a. The devil as playmaker: Mikhail Bulgakov, especially The Master and Margarita with its mixture of satire, fantasy and social criticism, influenced Yerofeev's style. The grotesque depiction of Soviet reality and the playful use of the absurd can also be found in Yerofeyev's work. Hardly any other author has woven the grotesque into Russian literature as artfully as Mikhail Bulgakov. In The Master and Margarita, the devil Voland and his demonic troupe create chaos in Moscow and expose the hypocrisy of Soviet society. Yerofeyev follows this model when he stages the Russian present as a grotesque circus in The Great Gopnik, in which power and anarchy become blurred. His characters are often diabolical figures who destroy the system with sadistic relish - not unlike Woland's henchman, the talking cat Behemoth, who shoots guns and cracks jokes about hell. b. The madness of everyday life: Daniil Charms, the Russian avant-gardist and founder of absurd realism, had a great influence on Yerofeyev. His short, often surreal texts full of violence, humor and nihilism are reflected in Yerofeyev's fragmentary, often grotesque narrative style. The master of the literary absurd has created a world in which people simply disappear, dissolve or fall from windows - not for dramaturgical reasons, but because the logic of reality is suspended. His short text A Certain Old Man tells the story of an old man who falls over and dies without warning - just like that. Yerofeyev uses this principle of sudden, senseless violence in many scenes in his work. In The Great Gopnik, a minor character is killed in mid-sentence as if he were an annoying fly - life in Russia is random, brutal and without compassion. c. Man's lost souls: Nikolai Gogol is known for his satirical exaggeration of characters and the absurd depiction of bureaucracy and power structures. No one has exposed the absurd bureaucracy of Tsarist Russia as farcical as Nikolai Gogol. In The Nose, a civil servant wakes up to find that his own nose has disappeared - and even worse: it is on the loose in St. Petersburg and is making a career for itself. The grotesque powerlessness of man in the face of an opaque system is a theme that Yerofeyev continues to explore. His characters do not fight against ghosts or demons, but against a Russian reality that is just as unpredictable and mocking as Gogol's overdrawn bureaucrats. d. The cabinet of Fyodor Dostoyevsky: The psychological depth and existential struggle with morality, guilt and chaos in works such as The Idiot and The Demons in particular influenced Yerofeyev's dark, philosophical reflections on his torn Russian soul. If there is a literary tradition that illuminates the inner abyss of man, it is that of Fyodor Dostoyevsky. In The Demons, a revolutionary murder becomes a farce because the perpetrators themselves do not know whether they are fighting for what is right or simply murdering. Yerofeyev continues this tradition by creating characters who teeter between megalomania and nihilism. In The Great Gopnik, a small-time crook suddenly becomes a politician - not because he is convinced or interested in power, but because circumstances drive him into this role. Like Dostoyevsky's Kirillov, who wants to kill himself to prove his absolute freedom, Yerofeyev's hero stumbles from one existential catastrophe to the next. e. Venedikt Yerofeyev and the Art of Drinking as Philosophy: One author with whom he is often confused is Venedikt Yerofeyev, who in the cult novel Moscow - Petushki lets a drunken, melancholy narrator stagger through the Soviet provinces. With his alcohol-soaked, poetic and tragicomic prose, this author left behind a legacy, a literary image of Soviet and post-Soviet neglect, which is also in streaks present in The Great Gopnik. His hero philosophizes about love, power and alcohol while getting drunk on spirits. Viktor Jerofejew's protagonists are very often alcoholics, but in his case the drunkenness turns into sheer violence. Where Venedikt Jerofejew still finds a tragicomic poetry, Viktor Jerofejew depicts a dehumanized world in which drinking is no longer rebellion, but merely survival. f. Franz Kafka and Jean-Paul Sartre: The absurdity of existence and the feeling of existential forlornness—central to the works of Kafka and Sartre—resonate in Yerofeyev’s portrayal of Russian society as a theater of the absurd. His Gopnik staggers through a meaningless system, fueled by vodka, poetry, and philosophical despair. Sartre’s famous line, “L’enfer, c’est les autres” (“Hell is other people”), from his play No Exit (Huis clos, 1944), captures the existential torment of being defined by the gaze of others. We are “prisoners” and our identities shaped and judged externally, which can become a form of psychological torture. Kafka anticipated similar ideas exploring how anonymous, inscrutable systems oppress the individual. In The Trial, Josef K. is condemned without knowing why—a symbol of how external forces, whether social or bureaucratic, strip away autonomy. To conclude, Viktor Yerofeyev's The Great Gopnik is characterized by a provocative, satirical and absurd writing style. His narrative is often fragmentary, exaggerated and full of grotesque exaggerations. He uses a laconic yet poetic language that oscillates between vulgar directness and philosophical reflection. He plays with excesses, crude comedy and surreal images to expose social and political grievances in Russia. He works with a mixture of black humor, existential despair and a certain playful resignation. His style is reminiscent of a mixture of Russian underground, postmodern satire and absurdist theater. His way of depicting Russian reality as a kind of grotesque carnival in which violence, power and chaos condense into an absurd farce is particularly striking. His work is a mirror in which not only Russia, but the entire modern world recognizes itself in its absurdity - and perhaps even laughs, albeit bitterly.
von Hans Pfleiderer 9. April 2025
Der Roman Der Große Gopnik (Большой Гопник) von Viktor Jerofejew ist eine bissige Satire, die den Einfluss des “Gopnik-Geistes” auf die russische Gesellschaft beschreibt: Von der Straße bis in den Kreml regiert eine Mentalität der Rücksichtslosigkeit, des Opportunismus und der Stärke um jeden Preis. Kapitel 1: Einleitung In diesem Buch beschreibt Viktor Jerofejew eine düstere und satirische Vision des heutigen Russlands. Der Titel verweist auf die Figur des “Gopnik”, ein in Russland verbreitetes Stereotyp eines kleinkriminellen, meist arbeitslosen und gewalttätigen jungen Mannes aus der Unterschicht, oft in Trainingsanzügen und mit einer Vorliebe für rohe Gewalt. Mit dem “Großen Gopnik” meint Jerofejew eine übersteigerte, fast mythische Version dieses Typs – eine Verkörperung brutaler Macht, die sich bis in die höchsten politischen und gesellschaftlichen Ebenen erstreckt. Es ist eine Metapher für die gegenwärtige russische Staatsführung, die sich autoritärer Methoden bedient und durch Einschüchterung, Korruption und Gewalt herrscht. Manche Interpretationen sehen in dieser Figur eine Anspielung auf Wladimir Putin und das politische System Russlands, das zunehmend von mafiösen Strukturen durchzogen ist. Erzählt wird von Putins unaufhaltsamem Aufstieg und stellt ihn als Verkörperung des “Großen Gopnik” dar, der das russische Imperium als eine Art Märchenwelt sieht, die es vor den Einflüssen Europas und Amerikas zu retten gilt. Gleichzeitig fungiert der Schriftsteller Viktor Jerofejew als sein Gegenspieler und bietet eine literarische Erklärung für die aktuellen Ereignisse in Russland. Der Roman ist in kurze Kapitel unterteilt, die zwischen verschiedenen Perspektiven, Zeitebenen und Bedeutungsebenen wechseln. Diese Struktur spiegelt die Komplexität und das Chaos der russischen Realität wider. Der 24. Februar 2022, der Tag des russischen Angriffs auf die Ukraine, zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch und wird in kursiv gesetzten Passagen reflektiert, die die Gedanken und Gefühle des Autors zum Ausdruck bringen. Insgesamt bietet “Der Große Gopnik” eine tiefgehende Analyse der russischen Gesellschaft und ihrer politischen Führung, verpackt in ein literarisches Werk, das Elemente von Autobiografie, Essay und Fiktion miteinander verbindet. Es ist ein imposanter Roman über das Drama des heutigen Russland. Kapitel 2: Ein Joycesche Dichtungsversuch Moskau unter einem Himmel wie nasser Stoff über mattem Gold Iwan Zarewitsch tritt durch Glas in eine Stadt die ihn vergessen hat oder ihn zu gut kennt wo keine Musik nur Maschinen Atem aus Metall Schatten erwarten die Luft so schwer wie Öl und sein Herz schlägt nicht im Takt der Zeit kein Stern nur Neon das nie blinkt unter kalten Fingern nach Regeln greifend beugen sich durch Korridore ohne Türen dumme Gesichter stumme Stimmen hohl huch der große Gopnik thront über Karten ohne Menschen er sieht nur Grenzen nur Blut Asche fällt wie Schnee Panzer rollen vorbei eine Frau steht mit einem Kind da der Atem gefriert der Hunger nicht Alexei ist schwach und fällt der Film geht weiter der Held wird zu einer Nummer wird vergessen Männer frieren in Zellen ohne Licht ihr Atem zeichnet Schatten in einem Korb das keine Menschen kennt nur Schuld dann viel später die Nachricht aus dem Nichts Alexei Navalny ist tot heißt es aber der Name lebt im Flüsterton weiter Iwan reitet durch Wälder durch Nächte durch ein Russland das vielleicht erwacht oder vielleicht nie
von Hans Pfleiderer 30. März 2025
Der Populismus ist ein immer wiederkehrendes Phänomen. „Die Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich.“ Dieses oft Mark Twain zugeschriebene Zitat beschreibt treffend die aktuelle politische Lage in Deutschland und Europa. Populismus ist keine neue Erfindung, sondern ein Phänomen, das in Zeiten der Unsicherheit immer wieder an Kraft gewinnt. Er lebt von Ängsten, Krisen und dem Misstrauen gegenüber den Eliten – und genau diese Bedingungen sind derzeit gegeben. Während Deutschland auf die nächsten Wahlen zusteuert, stehen viele Menschen vor der Frage: Weiter so oder ein radikaler Wandel? Die Ampel-Koalition taumelt von einer Krise in die nächste, die Wirtschaft stagniert, und viele Bürger fühlen sich von der Politik nicht mehr repräsentiert. In diesem Klima florieren populistische Strömungen, die einfache Antworten auf komplexe Fragen versprechen. Doch ist das wirklich der Ausweg? Und der Populismus ist eine historische Konstante. „Wer in der Demokratie schläft, wacht in der Diktatur auf.“ Dieser Satz, der oft Gustav Heinemann zugeschrieben wird, mahnt zur Wachsamkeit gegenüber populistischen Bewegungen, die mit demokratischen Mitteln an die Macht kommen – aber oft wenig Interesse an demokratischen Prinzipien haben. Schon in der Antike nutzten Demagogen in Athen und Rom die Unzufriedenheit des Volkes, um gegen die herrschenden Eliten zu mobilisieren. In der Weimarer Republik waren es sowohl linke als auch rechte Populisten, die das Vertrauen in die Demokratie untergruben. Heute erleben wir eine neue Welle: In Deutschland, Frankreich, Italien, den USA – überall gewinnen populistische Parteien an Einfluss. Populisten teilen dabei stets eine zentrale Erzählung: „Wir gegen die da oben.“ Sie präsentieren sich als Stimme des „wahren Volkes“ gegen eine abgehobene Elite, die angeblich die Interessen der einfachen Bürger verrät. Dabei bieten sie einfache Lösungen an, die in der Realität oft nicht umsetzbar sind. Wenn die Mitte versagt, jubeln die Extreme. Ein Blick in den Bundestag zeigt, wie weit die politische Debatte inzwischen eskaliert. Wer sich die Redebeiträge der letzten Monate angehört hat, dem dürfte besonders der Auftritt eines bekannten FDP-Abgeordneten im Gedächtnis geblieben sein, der die Grünen als „wirtschaftsfeindliche Verbotspartei“ bezeichnete – und dabei sogar Applaus aus Reihen der CDU erhielt. Ein Bruch mit den bisherigen Koalitionspartnern, der nicht mehr kaschiert werden konnte. Wenige Wochen später konterte ein grüner Minister mit einer kaum verhohlenen Drohung: „Wenn wir nicht konsequent handeln, werden künftige Generationen uns nicht nur unsere zögerliche Klimapolitik vorwerfen, sondern auch den Verrat an der Demokratie.“ Man fragt sich, ob diese Regierung überhaupt noch eine gemeinsame Linie finden kann. Einer der denkwürdigsten Momente des vergangenen Jahres war jedoch eine Rede des AfD-Politikers Björn Höcke, der im Bundestag gegen die Ampel wetterte, während die Regierungsbank schweigend zusah. Die üblichen Empörungsrufe aus der Opposition verpufften – die AfD hatte die Bühne, die sie sich wünschte. Solche Momente zeigen, wie sich das politische Klima verändert hat: Während die etablierte Politik mit sich selbst ringt, nutzen die Populisten geschickt die Schwächen des Systems. Der gegenwärtige Populismus gärt in Deutschland und Europa gleichermaßen. „Die Mitte wird kleiner, die Extreme werden lauter.“ Dieser Trend zeigt sich in vielen Ländern Europas, aber besonders in Deutschland. Die wirtschaftliche Unsicherheit der letzten Jahre hat tiefe Spuren hinterlassen. Die Energiekrise, der Fachkräftemangel und die hohe Inflation belasten viele Haushalte und Unternehmen. Zugleich haben Themen wie Migration, Klimaschutz und Identitätspolitik die Gesellschaft tief gespalten. Wer sich nicht gehört fühlt, sucht nach Alternativen – und findet sie oft bei populistischen Parteien. In Deutschland ist es vor allem die AfD, die von dieser Entwicklung profitiert. Sie inszeniert sich als Partei der „Vergessenen“, obwohl ihre Lösungen meist nur aus Protest bestehen, nicht aus konstruktiver Politik. Doch auch in anderen politischen Lagern gibt es populistische Strömungen, die auf Vereinfachung und Polemik setzen, statt komplexe Herausforderungen realistisch anzugehen. Der Bruch der Ampel könnte man die Selbstzerstörung einer Koalition nennen. „Drei Parteien, drei Richtungen, null Gemeinsamkeiten.“ So könnte man die Ampel-Koalition auf den Punkt bringen. Von Anfang an war dieses Bündnis ein Zweckbündnis, nicht eine Koalition der Überzeugung. SPD, Grüne und FDP stehen für sehr unterschiedliche politische Ansätze – und das zeigt sich in ihrer Regierungsarbeit. Kaum ein zentrales Thema, bei dem sich die Ampel einig ist. Wirtschaftspolitik? Die FDP fordert Steuersenkungen, die Grünen setzen auf Transformation, die SPD sucht einen sozialen Ausgleich. Migration? Ein ständiges Tauziehen zwischen Realpolitik und Idealismus. Energiepolitik? Ein Flickenteppich aus Kompromissen, die niemanden wirklich zufriedenstellen. Und das Ergebnis ist naheliegend: Blockade, Frust und schwindendes Vertrauen in die Regierung. Ein Regierungsbündnis, das sich in öffentlichen Streitigkeiten zerlegt, stärkt letztlich nur die politischen Ränder. Die Menschen sehen eine Regierung, die nicht handelt, und wenden sich Alternativen zu. Doch wer glaubt, dass Populisten die besseren Antworten haben, irrt: Laut sein ersetzt keine Lösungen. Deutschland vor der Wahl: Wer übernimmt die Verantwortung? „Wer keine Vision hat, darf nicht führen.“ Deutschland steht mal wieder an einem Scheideweg. Die nächsten Wahlen werden darüber entscheiden, ob das Land einen pragmatischen Kurs in der Mitte einschlägt oder weiter in die politische Polarisierung abrutscht. Es gibt große Herausforderungen: Wirtschaftliche Stagnation, Fachkräftemangel, soziale Ungleichheit, Klimawandel, geopolitische Unsicherheiten. Diese Probleme lassen sich nicht mit einfachen Parolen lösen. Was nötig ist, sind pragmatische Lösungen, politische Führung und ein offener Dialog, der die Gesellschaft wieder zusammenführt. Dafür braucht es eine Politik, die nicht nur verwaltet, sondern gestaltet. Eine Regierung, die nicht in Krisenmodus verharrt, sondern eine klare Richtung vorgibt. Und eine Wählerschaft, die sich nicht von populistischen Versprechungen verführen lässt, sondern Verantwortung übernimmt – für sich selbst und für die Demokratie. Fazit: Populismus ist keine Antwort, sondern bleibt eine Illusion. „Demokratie ist mühsam, aber ihre Alternative ist schlimmer.“ Die Geschichte zeigt, dass Populismus selten die Probleme löst, die er anprangert. Er nutzt Krisen, aber er überwindet sie nicht. Er lebt von Empörung, aber bietet keine langfristigen Lösungen. Deutschland steht vor großen Herausforderungen – aber auch vor großen Chancen. Die Frage ist, welchen Weg es einschlägt. Setzt es auf Pragmatismus und Lösungen oder auf Populismus und Protest? Die Zukunft des Landes hängt davon ab, ob Politik und Gesellschaft bereit sind, die richtigen Antworten auf die schwierigen Fragen unserer Zeit zu finden. Quellenverzeichnis: Heinemann, Gustav. "Wer in der Demokratie schläft, wacht in der Diktatur auf." Zitat, Ursprung nicht gesichert. Twain, Mark. "Die Geschichte wiederholt sich nicht, aber sie reimt sich." Zitat, zugeschrieben. Deutscher Bundestag. "Plenarprotokolle 2024/2025." Online abrufbar unter: https://www.bundestag.de Statistisches Bundesamt. "Wirtschaftliche Entwicklung in Deutschland 2023/24." Wiesbaden, 2024. Bundeszentrale für politische Bildung. "Populismus in Europa: Ursachen und Folgen." Bonn, 2023. Müller, Jan-Werner. "Was ist Populismus?" Suhrkamp Verlag, 2016. FAZ. "Analyse: Der Zustand der Ampel-Koalition." Frankfurter Allgemeine Zeitung, 2025. Süddeutsche Zeitung. "Regierungsbilanz: Eine Koalition in der Krise." Artikel vom 12. Januar 2025. Spiegel Online. "Die AfD und der Aufstieg des Populismus." Online-Artikel, 2024. Zeit Online. "Extremismus in Deutschland: Eine Analyse." Artikel vom 5. Februar 2025. Management: medien@independentexperts.com
von Hans Pfleiderer 8. April 2024
In der faszinierenden Welt der Lyrik eröffnet der vorliegende Gedichtband der preisgekrönten Berliner Schriftstellerin Rike Scheffler neue Horizonte. Dieses Werk ist kein gewöhnlicher Gedichtband; es fordert, verblüfft und belohnt seine Leserinnen und Leser auf eine Weise, die so ungewöhnlich ist wie seine Autorin. Schefflers Sprache entfaltet sich nicht sofort in ihrer vollen Pracht. Stattdessen verbirgt sie sich zunächst hinter einer Fassade aus Symbolen, Bildern und Rätseln, die beim ersten Lesen Widerstand und Befremden hervorrufen können. Doch dieser anfängliche Unverstand lädt zu einer tieferen Auseinandersetzung ein, zu einer Reise, auf der man die nuancierte Schönheit und Sensibilität ihrer Verse entdeckt. Dieser Gedichtband ist mehr als nur eine Sammlung von Gedichten; er ist ein interaktives Erlebnis. Durch ein ungewöhnliches Layout und die Einbindung von farbigen Bildern, die der Leserschaft die Freiheit lassen, sie an vorgesehenen Stellen einzukleben oder nach eigenem Ermessen im Buch zu verteilen, wird ein einzigartiger Dialog zwischen Text und LeserInnen, zwischen Dichterin und Welt geschaffen. Rike Scheffler fordert uns auf, nicht nur passive Konsumenten ihrer Worte zu sein, sondern aktive Teilnehmer an der Gestaltung des Leseerlebnisses. Indem wir physisch in das Buch eingreifen, nehmen wir nicht nur von seinem Inhalt Besitz, sondern lassen auch seine Essenz von uns Besitz ergreifen. Ein Blick auf die Rückseite des Einbandes gibt die Inhaltsangabe preis und skizziert in sieben Kapiteln die Sammlung von Gedichten, die sich über verschiedene Zeiträume erstrecken. Jedes Gedicht oder Gruppierung ist von der Gegenwart bis in die ferne Zukunft einem bestimmten Zeitraum zugeordnet. 1 to do wird als zeitloses Gedicht präsentiert, während 2 kleine Energien und 3 Wasser werden, Wal auf das späte 20. Jahrhundert bzw. das erste Jahrzehnt des 3. Jahrtausends verweisen. 4 bergen und 5 vom doppelten Tod behandeln zukünftige Zeiträume wie 2100 bis 2127 bzw. das Jahr 2143. 6 Ankunft, pastell wird auf etwa 2210 datiert, während 7 Rituale in einer unbestimmten Zeit nach 2300 verortet wird. Diese Kompilation von Gedichten bietet einen Einblick in historische Perioden und Zukunftsvisionen, die in poetischer Form erkundet werden. Am Anfang der Kapitel werden Zitate von namhaften VertreterInnen von Literatur, Feminismus, Wissenschaft, Aktivismus, und Kunst vorangestellt. Das erste Kapitel wird durch ein Zitat der Afro-Amerikanischen Künstlerin und Essayistin Renee Gladman aus Atlanta, Georgia eröffnet: „The sentence is at once a map of where we have gone and where we wish to go.“ Hier wird vermittelt, dass Karten mehr als geografische Darstellungen sind. Sie symbolisieren und leiten unsere Lebensreisen, indem sie vergangene Erfahrungen mit zukünftigen Zielen verknüpfen und sowohl unsere persönlichen als auch kollektiven Geschichten und Ambitionen reflektieren. Vergangenheit und Zukunft sind miteinander verbunden, wobei unsere Erfahrungen und Handlungen unsere zukünftigen Bestrebungen beeinflussen. Nun zum ersten Gedicht:
von Hans Pfleiderer 25. März 2024
Wenn es Euch gefallen hat, dann schreibt bitte etwas! Danke
von Hans Pfleiderer 1. März 2024
Es ist immer wieder erstaunlich, wie geheimnisvoll manche Artikel bleiben, wenn es um etwas Geheimnisvolles geht. Und dasselbe gilt für Kunstausstellungen im Allgemeinen und der Ausstellung REVISIONS im Rautenstrauch-Joest Museum in Köln. Ich muss erwähnen, dass ich diesen Brief in situ von zu Hause schreibe und die Ausstellung nicht mit eigenen Augen gesehen habe, sondern mich auf den Artikel von Dr. Anette Rein in ExpoTime! Ausgabe Jan/Feb 2024 beziehe. Die Ausstellung thematisiert die Auswirkungen der europäischen Kolonialisierung auf die indigenen Völker Australiens, insbesondere die Warlpiri, die in Zentralaustralien leben. Sie betonen ihre tiefe spirituelle Verbindung zum traditionellen Land, wobei ihre Kunst die Notwendigkeit hervorhebt, identitäre Perspektiven zu integrieren und zu respektieren, die in westlichen historischen Narrativen fehlen. Die Warlpiri-Künstler nutzen vorwiegend die Punktemalerei, um ihre Geschichten und kulturelles Selbstverständnis auszudrücken und historische Verzerrungen ihrer Geschichte zu kritisieren. Die Ausstellung zeigt die Reinterpretation von Archivmaterial und historischen Fotografien durch die Warlpiri-Künstler, um ihre Sichtweise auf die australische Geschichte zu präsentieren. Sie schaffen neue Erzähl- und Bildformen, um die komplexen Beziehungen zu ihren Vorfahren und Traumpfaden, in ihrer eigenen Sprache "jukurrpa" genannt, darzustellen. Besucher werden ermutigt, die Grenzen westlicher Wissensansprüche zu hinterfragen und die Welt aus indigenen Perspektiven zu betrachten.
von Hans Pfleiderer 20. Februar 2024
Der amerikanische Künstler Doug Aitken ist im Sindelfinger Schauwerk zu sehen. Das Schauwerk ist ein Privatmuseum des im Jahre 2015 verstorbenen Industriellen Peter Schaufler, welcher als Geschäftsführer des Unternehmes BITZER Kühlmaschinenbau GmbH, dem weltweit größten Hersteller von Kompressoren für Kälte- und Klimaanlagen, ein leidenschaftlicher Sammler zeitgenössischer Kunst war. Zu seinen Lebzeiten avancierte er mit über 3500 umfangreicher Werke zu den bedeutendsten Privatsammlern in Deutschland und vermachte seine Sammlung der 2005 gegründeten Schaufler Foundation. Zeitgenössische Kunst umfasst die Kunstwerke, die in der Gegenwart oder in jüngerer Zeit seit den 1960er Jahren entstanden sind und die Vielfalt und Aktualität der kulturellen Landschaft widerspiegeln. Als grundsolider Schwabe lebte er nach dem Motto „Zusammenführung von Unternehmertum mit Wissenschaft, Forschung und Kunst“ und stiftete mit dem Bau eines Museums, dem Kuratieren und der Kunstvermittlung seine Kunstwerke sozusagen der Öffentlichkeit. Jetzt stehe ich vor dem Dilemma, dass ich nicht genau weiß, was ich über diesen 55-jährigen Mann aus Kalifornien schreiben soll, über diesen weltberühmten Künstler, dem seit seiner preisgekrönten Videoinstallation «Electric Earth», die er 1999 anlässlich der 48. Biennale in Venedig ausgestellt und für die er den Goldenen Löwen bekommen hatte, die Lobeshymnen in die Ohren schallen und die Preise und Auszeichnungen aus den Ohren quellen. Das gilt auch für die Preise, die er mittlerweile aufrufen kann. In der großflächigen Fertigungshalle des ehemaligen BITZER Stammwerkes stellt das Museum in einer großen Einzelausstellung mit dem Titel „Return to the real“ vier seiner Arbeiten vor. Die Erste ist Wilderness von 2022, eine Videoinstallation auf runden Leinwänden. Zu Beginn der Corona-Pandemie nahm Aitken Videos vom täglichen Leben am Strand in der Nähe seines Hauses in Los Angeles auf. Diese Videos wurden mit künstlich generierter Musik hinterlegt und zeigen einen durch Landschaftsaufnahmen und Szenen von Menschen am Strand in Zeitlupe den rhythmisierten Zyklus vom Sonnenaufgang bis zum Einbruch der Nacht. Ich selbst lebte über 10 Jahre an der Westside von Los Angeles und verbrachte viele Abende an eben diesem Strand. Die Menschen kommen, mich eingeschlossen, möglicherweise dorthin, um beim Beobachten des Sonnenuntergangs und beim Hören der tosenden, nicht enden wollenden Brandungsgeräusche über das Universum und den Lauf der Welt zu meditieren, um festzustellen, dass wir völlig insignifikant sind im Hinblick auf das großartige Spektakel. Und die Kommentare seiner Rezensenten, dass man in seine Arbeiten viel hineinlesen kann, wie z.B. dass seine Installationen die Verschmelzung von digitalem und realem Leben sowie die Fragmentierung von Raum und Zeit durch die Digitalisierung reflektieren, sogar Fragen zur Identität, Kommunikation und Entfremdung in der modernen Gesellschaft stellt und als Metapher für zwanghafte Migration aufgrund von Notlagen dient, teile ich kategorisch nicht. Die Fernsehnachrichten können das deutlich besser. Die Zweite ist migration (empire) von 2008. Das Kunstwerk zeigt auf drei hintereinander stehenden Stahl-Billboards verlassene Städte und Landschaften, gefilmt in Motelzimmern quer durch die USA. Nordamerikanische Wandertiere erkunden die Zimmer, reagieren auf ihre Instinkte und interagieren mit den für sie künstlichen Umgebungen. Mir kommt da in den Sinn, dass der einst als kalifornischer Beachboy bezeichnete Doug Aitken eine Welt kreiert, die wie ein Shooting in einem Studio aussieht und sich mir die Frage stellt, ob er die Akteure bei der Talentagentur CAA in Hollywood angefragt hatte, weil sie entweder berühmt sind oder wie Models aussehen, die Tiere mit inbegriffen. Für mich ist das in keiner Weise eine Konfrontation mit Natur und Künstlichkeit, sondern eine durch und durch inszenierte Artifizialität. Der Künstler selbst ist der Meister seiner Künstlichkeit. Als ein Vertreter von Hollywood hat er sich mittlerweile auch den Klischees und Stereotypen unterworfen. Katinka Fischer von der FAZ nennt es parodistisch „Kreatur trifft Zivilisation.“ (FAZ, Künstler Doug Aitken, Der Waschbär im Motel von Katinka Fischer, 29.09.2023)
von Hans Pfleiderer 25. Mai 2023
I went to enjoy the Swiss premiere of "Lessons in Love with Violence", an opera composed by Sir George Benjamin with a libretto by Martin Crimp. It premiered in 2008 and has since gained critical acclaim for its powerful and gripping music. The opera tells a dark and complex story of love, power, and inevitable dramaturgic cruelty set in an unnamed court of the 18th century. Benjamin's score is characterized by its rich orchestration, intricate vocal writing, and a wide spectrum of musical styles that span from lyrical melodies to dissonant and angular passages. Also the characters seem to get more and more sucked in and caught up in tri-angular conflicts. The music effectively captures the dramatic tension and emotional depth of the narrative, making "Lessons in Love with Violence" a compelling and thought-provoking operatic experience. More, though, Sir George Benjamin's music is characterized by its meticulous craftsmanship and sonic beauty. He frequently employs vivid orchestration, with a keen sense of color and texture. Benjamin's compositions often explore timbral and rhythmic complexities, showcasing his mastery of contemporary techniques while maintaining a deep connection to emotive and eeire qualities. His works demonstrate a unique blend of modernity and tradition, combining innovative approaches with a profound understanding of classical forms and structures. The result is music that is intellectually stimulating, emotionally evocative, and highly captivating for both performers and listeners alike. The set by Rufus Didviszus could not transport me into the 18th century. Besides a pseudofeudal graffiti, wasn't it a time of great social reform shouting of Hume, Bentham and Berkeley? Again, the set was fixed and flat and could not gain any motion from dressing it with mobile stands with red stadium seating. Cheap, isn't it. Director Evgeny Titov from Kasakhstan, obviously fairly new to the opera business, could also not inspire his performers with contemporary guidance and gusto to avoid the typical clichees of his lead cast and raggedy-overdressed extras, which mostly moved like retards and zombies. Unfortunately I have been forced to yawn whenever the lead went down on his knees. I call it lead poisoning. Nevertheless I was particularly thrilled by Janine De Bique's and Ivan Ludlow's interpretation, which let me forgive and forget my overcritical thoughts for a time well spent. It's worth to go and experience for yourself.
von websitebuilder 22. Februar 2022
Im Herbst 1993 fing ich an der TU Berlin an, meine Diplomarbeit in Architektur zu schreiben. Basierend auf dem Entwurf einer vorherigen Arbeit eines Lichtarchitektur-Mediencenters, hatte ich anfangs vor, den Alexander Platz mit Wolkenkratzern gnadenlos vollzustellen, um dem ursprünglichsten Berliner Downtown eine würdevolle Skyline oder Kulisse zu geben. Es sollte doch endlich Schluss sein mit der Berliner Traufhöhe. Als Berliner Traufhöhe wird eine Traufhöhe von 22 Metern bezeichnet. Die Traufhöhe ergab sich im Zuge der Stadterweiterung Berlins im 19. Jahrhundert nach dem Hobrecht-Plan, um zu verhindern, dass bei Bränden umstürzende Fassaden gegenüberliegende Häuser beschädigen. Nur rund 0,35 Prozent aller 370.000 Berliner Gebäude (Stand Herbst 2019) sind höher als 35 Meter und überragen damit die Traufhöhe um 50 Prozent und mehr. Am 25. Februar 2020 vom Berliner Senat ein Hochhausleitbild beschlossen, in dem „die Berliner Traufhöhe von 22 Metern in der Innenstadt kein Dogma mehr sein“ sollte. Also begann ich, das Quartier zu besuchen, was ich ja seit einigen Jahren ungehindert betreten durfte. Kaum vier Jahre zuvor hatte ich während einer Exkursion entlang der S-Bahn Gleise im Stadtteil Wedding in die Läufe von Maschinengewehren geschaut und musste mich mit Todesdrohungen anschreien lassen, weil ich einem voll besetzten Wachturm zu nahe kam. Bei meinem Quartierbesuch stieg ich am Alexanderplatz aus und lief die Karl-Liebknecht-Straße Richtung Unter den Linden. Entlang am Interhotel, dem Fernsehturm, der Marienkirche, dem Roten Rathaus, dem stillgelegten Geisterhaus Palast der Republik und dem Berliner Dom erreichte ich die Museumsinsel.
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