Der Roman Der Große Gopnik
(Большой Гопник) von Viktor Jerofejew ist eine bissige Satire, die den Einfluss des “Gopnik-Geistes” auf die russische Gesellschaft beschreibt: Von der Straße bis in den Kreml regiert eine Mentalität der Rücksichtslosigkeit, des Opportunismus und der Stärke um jeden Preis.
Kapitel 1: Einleitung
In diesem Buch beschreibt Viktor Jerofejew eine düstere und satirische Vision des heutigen Russlands. Der Titel verweist auf die Figur des “Gopnik”, ein in Russland verbreitetes Stereotyp eines kleinkriminellen, meist arbeitslosen und gewalttätigen jungen Mannes aus der Unterschicht, oft in Trainingsanzügen und mit einer Vorliebe für rohe Gewalt. Mit dem “Großen Gopnik” meint Jerofejew eine übersteigerte, fast mythische Version dieses Typs – eine Verkörperung brutaler Macht, die sich bis in die höchsten politischen und gesellschaftlichen Ebenen erstreckt. Es ist eine Metapher für die gegenwärtige russische Staatsführung, die sich autoritärer Methoden bedient und durch Einschüchterung, Korruption und Gewalt herrscht. Manche Interpretationen sehen in dieser Figur eine Anspielung auf Wladimir Putin und das politische System Russlands, das zunehmend von mafiösen Strukturen durchzogen ist.
Erzählt wird von Putins unaufhaltsamem Aufstieg und stellt ihn als Verkörperung des “Großen Gopnik” dar, der das russische Imperium als eine Art Märchenwelt sieht, die es vor den Einflüssen Europas und Amerikas zu retten gilt. Gleichzeitig fungiert der Schriftsteller Viktor Jerofejew als sein Gegenspieler und bietet eine literarische Erklärung für die aktuellen Ereignisse in Russland. Der Roman ist in kurze Kapitel unterteilt, die zwischen verschiedenen Perspektiven, Zeitebenen und Bedeutungsebenen wechseln. Diese Struktur spiegelt die Komplexität und das Chaos der russischen Realität wider. Der 24. Februar 2022, der Tag des russischen Angriffs auf die Ukraine, zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch und wird in kursiv gesetzten Passagen reflektiert, die die Gedanken und Gefühle des Autors zum Ausdruck bringen. Insgesamt bietet “Der Große Gopnik” eine tiefgehende Analyse der russischen Gesellschaft und ihrer politischen Führung, verpackt in ein literarisches Werk, das Elemente von Autobiografie, Essay und Fiktion miteinander verbindet. Es ist ein imposanter Roman über das Drama des heutigen Russland.
Kapitel 2: Ein Joycesche Dichtungsversuch
Moskau unter einem Himmel wie nasser Stoff über mattem Gold Iwan Zarewitsch tritt durch Glas in eine Stadt die ihn vergessen hat oder ihn zu gut kennt wo keine Musik nur Maschinen Atem aus Metall Schatten erwarten die Luft so schwer wie Öl und sein Herz schlägt nicht im Takt der Zeit kein Stern nur Neon das nie blinkt unter kalten Fingern nach Regeln greifend beugen sich durch Korridore ohne Türen dumme Gesichter stumme Stimmen hohl huch der große Gopnik thront über Karten ohne Menschen er sieht nur Grenzen nur Blut Asche fällt wie Schnee Panzer rollen vorbei eine Frau steht mit einem Kind da der Atem gefriert der Hunger nicht Alexei ist schwach und fällt der Film geht weiter der Held wird zu einer Nummer wird vergessen Männer frieren in Zellen ohne Licht ihr Atem zeichnet Schatten in einem Korb das keine Menschen kennt nur Schuld dann viel später die Nachricht aus dem Nichts Alexei Navalny ist tot heißt es aber der Name lebt im Flüsterton weiter Iwan reitet durch Wälder durch Nächte durch ein Russland das vielleicht erwacht oder vielleicht nie
Kapitel 3: Literarische Einflüsse
Das groteske Erbe der russischen Literatur rumort in Viktor Jerofejews Werk. Er ist ein literarischer Sprengmeister. Seine Romane und Essays entfalten sich wie ein abgründiges Karnevalsfest, in dem Gewalt, Wahnsinn und Sarkasmus aufeinanderprallen. Doch sein Werk steht nicht im luftleeren Raum – es ist tief verwurzelt in der russischen und europäischen Literaturgeschichte. Sechs große Schriftsteller haben seinen Stil geprägt, und in jeder ihrer Figuren findet sich ein Echo von Jerofejews überdrehter Erzählweise. Er verbindet diese Einflüsse zu einem eigenständigen Stil, der zwischen Satire, Philosophie und radikaler Provokation schwankt, steht somit in der Tradition der russischen literarischen Avantgarde und des absurden Realismus. Seine wichtigsten Vorbilder und Einflüsse sind:
1. Der Teufel als Spielmacher
Michail Bulgakow, besonders Der Meister und Margarita mit seiner Mischung aus Satire, Fantastik und Gesellschaftskritik hat Jerofejews Stil geprägt. Die groteske Darstellung der sowjetischen Realität und der spielerische Umgang mit dem Absurden finden sich auch in Jerofejews Werk wieder. Kaum ein Autor hat das Groteske so kunstvoll in die russische Literatur eingeflochten wie Michail Bulgakow. In Der Meister und Margarita stiftet der Teufel Woland mit seiner dämonischen Truppe in Moskau Chaos und entlarvt die Heuchelei der sowjetischen Gesellschaft. Jerofejew folgt diesem Vorbild, wenn er in Der Große Gopnik die russische Gegenwart als einen grotesken Zirkus inszeniert, in dem Macht und Anarchie verschwimmen. Seine Figuren sind oft teuflische Gestalten, die mit sadistischer Lust das System zerstören – nicht anders als Wolands Handlanger, der sprechende Kater Behemoth, der mit Pistolen schießt und Witze über die Hölle reißt.
2. Der Wahnsinn des Alltags
Daniil Charms, der russische Avantgardist und Begründer des absurden Realismus hatte großen Einfluss auf Jerofejew. Seine kurzen, oft surrealen Texte voller Gewalt, Humor und Nihilismus spiegeln sich in Jerofejews fragmentarischer, oft grotesker Erzählweise. Der Meister des literarischen Absurden, hat eine Welt geschaffen, in der Menschen einfach verschwinden, sich auflösen oder von Fenstern stürzen – nicht aus dramaturgischen Gründen, sondern weil die Logik der Realität aufgehoben ist. Sein kurzer Text Ein gewisser alter Mann erzählt von einem Greis, der ohne Vorwarnung umfällt und stirbt – einfach so. Jerofejew nutzt dieses Prinzip der plötzlichen, sinnlosen Gewalt in vielen Szenen seines Werks. In Der Große Gopnik wird eine Nebenfigur mitten im Satz erschlagen, als wäre sie eine lästige Fliege – das Leben in Russland ist eben zufällig, brutal und ohne Mitleid.
3. Gogols verlorene Seelen
Nikolai Gogol – Vor allem die satirische Überzeichnung von Charakteren und die absurde Darstellung von Bürokratie und Machtstrukturen erinnern an Gogols Stil. Niemand hat die absurde Bürokratie des zaristischen Russlands so als Farce entlarvt wie Nikolai Gogol. In Die Nase wacht ein Beamter auf und stellt fest, dass seine eigene Nase verschwunden ist – und noch schlimmer: Sie läuft frei durch St. Petersburg und macht Karriere. Die groteske Machtlosigkeit des Menschen gegenüber einem undurchsichtigen System ist ein Thema, das Jerofejew weiterführt. Seine Figuren kämpfen nicht gegen Geister oder Dämonen, sondern gegen eine russische Realität, die ebenso unberechenbar und verhöhnend ist wie Gogols überzeichnete Bürokraten.
4. Dostojewskis Dämonen
Fjodor Dostojewski – Besonders die psychologische Tiefe und das existenzielle Ringen mit Moral, Schuld und Chaos in Werken wie Der Idiot oder Die Dämonen haben Jerofejews düstere, philosophische Reflexionen seiner zerrissenen, russischen Seele beeinflusst. Wenn es eine literarische Tradition gibt, die den inneren Abgrund des Menschen beleuchtet, dann ist es die von Fjodor Dostojewski. In Die Dämonen wird ein revolutionärer Mord zu einer Farce, weil die Täter selbst nicht wissen, ob sie für das Richtige kämpfen oder einfach nur morden. Jerofejew setzt diese Tradition fort, indem er Figuren erschafft, die zwischen Größenwahn und Nihilismus taumeln. In Der Große Gopnik wird ein Kleinganove plötzlich zum Politiker – nicht, weil er überzeugt ist, sondern weil die Umstände ihn in diese Rolle treiben. Wie Dostojewskis Kirillow, der sich umbringen will, um seine absolute Freiheit zu beweisen, stolpert Jerofejews Held von einer existenziellen Katastrophe in die nächste.
5. Das Trinken als Philosophie – Wenedikt Jerofejews Vermächtnis
Wenedikt Jerofejew (keine Verwandtschaft), der Autor des Kultromans Moskau–Petuschki hinterlies mit seiner alkoholgetränkten, poetischen und tragikomischen Prosa ein Vermächtnis, ein literarisches Bild der sowjetischen und post-sowjetischen Verwahrlosung, was auch in Der Große Gopnik präsent ist. Ein Autor, mit dem er oft verwechselt wird, ist Wenedikt Jerofejew, der in Moskau–Petuschki einen betrunkenen, melancholischen Erzähler durch die sowjetische Provinz taumeln lässt. Sein Held philosophiert über Liebe, Macht und Alkohol, während er sich mit Spiritus betrinkt. Auch Viktor Jerofejews Protagonisten sind häufig Alkoholiker, doch bei ihm schlägt die Trunkenheit in blanke Gewalt um. Wo Wenedikt Jerofejew noch eine tragikomische Poesie findet, zeichnet Viktor Jerofejew eine entmenschlichte Welt, in der das Trinken nicht mehr Rebellion, sondern nur noch Überleben ist.
6. Kafka und Sartre
Franz Kafka und Jean-Paul Sartre – Die Absurdität des Daseins und das Gefühl der existenziellen Verlorenheit, die in ihren Werken eine zentrale Rolle spielen, resonieren bei Jerofejew, wenn er die russische Gesellschaft als eine Art absurdes Theater beschreibt.
Lassen Sie mich die berühmte Aussage „Die Hölle, das sind die anderen“ von Jean-Paul Sartre insertieren. Diese steht im Zentrum seines Theaterstücks Geschlossene Gesellschaft (Huis clos, 1944). Sie ist ein Grundstein existenzialistischer Philosophie. Damit meint Sartre nicht, dass andere Menschen per se schrecklich sind, sondern dass unser Selbstbild durch den Blick und das Urteil anderer entsteht – und das kann zur Qual werden. Wir sind in gewisser Weise „Gefangene“ im Blick der anderen, die uns festlegen, definieren, beurteilen. Und wo kommt Kafka ins Spiel? Franz Kafka hat diesen Gedanken – auf seine Weise – literarisch vorweggenommen oder parallel ausgedrückt. Zwar hat er nicht explizit oben genannten Satz gesagt, aber viele seiner Werke zeigen, wie das Ich durch äußere (meist anonyme, absurde oder undurchschaubare) Instanzen bedrängt und entmenschlicht wird. Zum Beispiel in Der Prozess: Josef K. wird verurteilt, ohne zu wissen warum – der Einzelne steht einem fremden System gegenüber, das ihn beurteilt und vernichtet.
Der gemeinsame Nenner: Bei Sartre ist die Hölle der soziale Blick, das ständige Gesehen- und Bewertetwerden, bei Kafka ist es oft die unergründliche Macht des Systems oder der Gesellschaft, die das Individuum zermalmt. In beiden Fällen verliert sich der Mensch selbst durch die Macht, die „die anderen“ über ihn ausüben. Diese Impulse aus der europäischen Literatur bewirken, daß seine Helden oft fassungslos vor einer Realität stehen, die sie nicht verstehen, aber ertragen müssen.
Kapitel 4: Eine Karikatur des russischen Daseins
Viktor Jerofejews Der Große Gopnik zeichnet sich durch einen provokanten, satirischen und absurden Schreibstil aus. Sein Erzählen ist oft fragmentarisch, überdreht und voller grotesker Überzeichnungen. Er nutzt eine lakonische, aber zugleich poetische Sprache, die zwischen vulgärer Direktheit und philosophischer Reflexion schwankt. Dabei spielt er mit Exzessen, derber Komik und surrealen Bildern, um gesellschaftliche und politische Missstände in Russland zu entlarven. Er arbeitet mit einer Mischung aus schwarzem Humor, existenzieller Verzweiflung und einer gewissen spielerischen Resignation. Sein Stil erinnert an eine Mischung aus russischem Underground, postmoderner Satire und absurdem Theater. Besonders prägnant ist seine Art, die russische Realität als eine Art grotesken Karneval darzustellen, in dem Gewalt, Macht und Chaos sich zu einer absurden Farce verdichten. Sein Werk ist ein Spiegel, in dem sich nicht nur Russland, sondern die gesamte moderne Welt in ihrer Absurdität erkennt – und dabei vielleicht sogar lacht, wenn auch bitter.
Viktor Jerofejew, Der Große Gopnik: Roman, 624 Seiten, Matthes & Seitz, Berlin; 4. Edition, 2023
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