Ein langersehnter Besuch des Humboldtforum in Berlin
Essay
Im Herbst 1993 fing ich an der TU Berlin an, meine Diplomarbeit in Architektur zu schreiben. Basierend auf dem Entwurf einer vorherigen Arbeit eines Lichtarchitektur-Mediencenters, hatte ich anfangs vor, den Alexander Platz mit Wolkenkratzern gnadenlos vollzustellen, um dem ursprünglichsten Berliner Downtown eine würdevolle Skyline oder Kulisse zu geben. Es sollte doch endlich Schluss sein mit der Berliner Traufhöhe. Als Berliner Traufhöhe wird eine Traufhöhe von 22 Metern bezeichnet. Die Traufhöhe ergab sich im Zuge der Stadterweiterung Berlins im 19. Jahrhundert nach dem Hobrecht-Plan, um zu verhindern, dass bei Bränden umstürzende Fassaden gegenüberliegende Häuser beschädigen. Nur rund 0,35 Prozent aller 370.000 Berliner Gebäude (Stand Herbst 2019) sind höher als 35 Meter und überragen damit die Traufhöhe um 50 Prozent und mehr. Am 25. Februar 2020 vom Berliner Senat ein Hochhausleitbild beschlossen, in dem „die Berliner Traufhöhe von 22 Metern in der Innenstadt kein Dogma mehr sein“ sollte. Also begann ich, das Quartier zu besuchen, was ich ja seit einigen Jahren ungehindert betreten durfte. Kaum vier Jahre zuvor hatte ich während einer Exkursion entlang der S-Bahn Gleise im Stadtteil Wedding in die Läufe von Maschinengewehren geschaut und musste mich mit Todesdrohungen anschreien lassen, weil ich einem voll besetzten Wachturm zu nahe kam. Bei meinem Quartierbesuch stieg ich am Alexanderplatz aus und lief die Karl-Liebknecht-Straße Richtung Unter den Linden. Entlang am Interhotel, dem Fernsehturm, der Marienkirche, dem Roten Rathaus, dem stillgelegten Geisterhaus Palast der Republik und dem Berliner Dom erreichte ich die Museumsinsel.

Dieser Ort, den unsere deutsche Geschichte förmlich einrahmte, wirkte wie ein Schachbrett, auf das es Bomben regnete und ein paar wenige strategische Figuren stehen geblieben waren, wie in einem Remis oder kurz vor dem unausweichlichen Matt. Der politische Kampf in den Nachkriegsjahren und im Kalten Krieg war ja nicht zwischen David und Goliath, sondern eher zwischen Brüdern und Schwestern. Von dem einstigen dicht bebauten Quartier war nichts übrig geblieben. Auch die Mauern des Schlosses mussten in den ideologischen Aufräumarbeiten der 50er-Jahren weichen. Ich stand vor dem Alten Museum, geflankt vom Dom und dem Historischen Museum und schaute über den Marx-Engels-Platz hinweg auf das Staatsratsgebäude aus den 60er-Jahren, was eines der historischen Portale des 1950 gesprengten Berliner Schlosses in seiner Fassade trug. Links davon thronte der hermetisch versiegelte Palast der Republik. Der riesige Parkplatz davor war nun leer. Da wusste ich, dass ich ein Museum planen wollte und ersann mir den Projektnamen: Haus der Zeiten.


Als Erstes musste dieses Scheusal verschwinden, vorsichtig abgetragen werden, damit die benachbarte Kirche nicht zusammen mit den Gebeinen von den Hohenstaufern weg sackte. In den darauffolgenden Wochen konkretisierte ich meine Vorstellung, ließ den Keller stehen, deckelte ihn ab mit einer gigantischen begehbaren Glasplatte auf Stützen und platzierte an einem Vortex der Raumachsen zwei aufeinander gelagerte Pyramiden, die symbolisch wie eine Sanduhr für die Zeit standen. Die Untere war der Vergangenheit oder Tradition gewidmet, die Obere auf der Spitze stehend divergierte in die Zukunft und sollte aus Stahl und Glas sein, gefüllt mit multimedialen Objekten. Der Berührungspunkt war geometrisch ein eindimensionaler Punkt, also ohne jede Masse und eine Metapher auf die Gegenwart, das Jetzt, was wir bekanntlich kaum fassen können. Ich präsentierte die Arbeit in 3D und verzichtete auf Pläne und Modell. Die Prüfer liesen mich nicht durchfallen , sondern bewunderten meinen Mut. Es hatte nichts mit Mut zu tun, sondern es war der Aufbruch in ein technologisches Zeitalter. Ich behaupte, der erste Architekturstudent weltweit gewesen zu sein, der seine Arbeiten multimedial präsentierte. Einer musste ja damit anfangen.

Als ich am 27. November letzten Jahres das Humboldtforum besuchte, war ich empört und hingerissen. Es war ein kühler, sonniger Herbsttag im Herzen von Berlin. Das Spiel wurde offensichtlich nie beendet und eine Reihe neuer Figuren stand auf dem Schachbrett. In seiner historisierenden Monumentalität wirkte das Humboldtforum im Kontext des Stadtraums in meinen verwirrten Augen angemessen. Da ich mich als Technologie-freudiger Modernist im Geiste von Foster, Rogers und Hadid empfand, konnte ich mich für den ganzen Plan einer Rekonstruktion des königlichen Schlosses überhaupt nicht erwärmen. Allerdings mag ich auch Schlüter, Eosander und Schinkel. Ich liebe nämlich Geschichte und bin musikalisch ein Romantiker. Es sind aber immer die Zeiten der Umbrüche, des Überganges, die besonders interessant sind, sprich von Barock in den Klassizismus, von der Romantik in die Moderne und vielleicht der Mauer- und Kniefall eines geteilten, jetzt vereinten Deutschland. Vor ein paar Jahren stand ich neben der abscheulichen Humboldt-Box und betrachtete ein 1:1 Modell der geplanten Fassade und die Gerüstkonstruktion hinter der bedruckten Plane. Das fand ich schon ziemlich cool. Meine Skepsis verflüchtigte sich, als ich bei meinem jetzigen Besuch in das Innere vordrang und in der Modernität und hoffentlich Realität empfangen wurde.

Trotz Corona, aber mit dem vollen Impfprogramm war es mir möglich, die Ausstellungen und Sammlungen zu besuchen. Besonders interessant und technisch gut gelöst fand ich die Ausstellung Berlin Global , welche wie angekündigt interaktiv-verbinden-vielstimmig daherkam und das Ethnologisches Museum und Museum für Asiatische Kunst mit ihren Neupräsentationen der Sammlungen, welche auch überraschend-vielseitig-weiträumig waren. Nach ein paar Stunden, in denen ich mich mit Kultur umgeben hatte, schwebte ich über die gigantischen Rolltreppen wieder auf das Straßenniveau hinunter und schlenderte durch die offenen Höfe des Humboldtforums, mit dem Eindruck, in einem Quartier zu sein. In meinen Augen sehr gelungen.
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Bildnachweis:
Alle Bilder von Hans Pfleiderer
Bild 5 mit Genehmigung der „Stiftung Humboldt Forum im Berliner Schloss“
Schreibkram - paperwork




