von Hans Pfleiderer
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9. April 2025
Der Roman Der Große Gopnik (Большой Гопник) von Viktor Jerofejew ist eine bissige Satire, die den Einfluss des “Gopnik-Geistes” auf die russische Gesellschaft beschreibt: Von der Straße bis in den Kreml regiert eine Mentalität der Rücksichtslosigkeit, des Opportunismus und der Stärke um jeden Preis. Kapitel 1: Einleitung In diesem Buch beschreibt Viktor Jerofejew eine düstere und satirische Vision des heutigen Russlands. Der Titel verweist auf die Figur des “Gopnik”, ein in Russland verbreitetes Stereotyp eines kleinkriminellen, meist arbeitslosen und gewalttätigen jungen Mannes aus der Unterschicht, oft in Trainingsanzügen und mit einer Vorliebe für rohe Gewalt. Mit dem “Großen Gopnik” meint Jerofejew eine übersteigerte, fast mythische Version dieses Typs – eine Verkörperung brutaler Macht, die sich bis in die höchsten politischen und gesellschaftlichen Ebenen erstreckt. Es ist eine Metapher für die gegenwärtige russische Staatsführung, die sich autoritärer Methoden bedient und durch Einschüchterung, Korruption und Gewalt herrscht. Manche Interpretationen sehen in dieser Figur eine Anspielung auf Wladimir Putin und das politische System Russlands, das zunehmend von mafiösen Strukturen durchzogen ist. Erzählt wird von Putins unaufhaltsamem Aufstieg und stellt ihn als Verkörperung des “Großen Gopnik” dar, der das russische Imperium als eine Art Märchenwelt sieht, die es vor den Einflüssen Europas und Amerikas zu retten gilt. Gleichzeitig fungiert der Schriftsteller Viktor Jerofejew als sein Gegenspieler und bietet eine literarische Erklärung für die aktuellen Ereignisse in Russland. Der Roman ist in kurze Kapitel unterteilt, die zwischen verschiedenen Perspektiven, Zeitebenen und Bedeutungsebenen wechseln. Diese Struktur spiegelt die Komplexität und das Chaos der russischen Realität wider. Der 24. Februar 2022, der Tag des russischen Angriffs auf die Ukraine, zieht sich wie ein roter Faden durch das Buch und wird in kursiv gesetzten Passagen reflektiert, die die Gedanken und Gefühle des Autors zum Ausdruck bringen. Insgesamt bietet “Der Große Gopnik” eine tiefgehende Analyse der russischen Gesellschaft und ihrer politischen Führung, verpackt in ein literarisches Werk, das Elemente von Autobiografie, Essay und Fiktion miteinander verbindet. Es ist ein imposanter Roman über das Drama des heutigen Russland. Kapitel 2: Ein Joycesche Dichtungsversuch Moskau der Himmel hängt tief über den goldenen Kuppeln grau schmutzig wie eine alte Zigarette die am Rand einer Pfütze klebt zerdrückt von einem Stiefel den niemand sieht ein Himmel der kein Versprechen mehr gibt nur noch Asche nur noch Rauch Iwan Zarewitsch tritt durch die Tür des Flughafens sein Blick geradeaus durch die Glaswände hindurch in die Stadt die ihn nicht mehr kennt oder die ihn nur zu gut kennt kein Applaus keine Musik nur das Summen der Maschinen das Klicken der Kameras das rhythmische Stampfen der Stiefel auf den Böden aus Beton als würde die Stadt selbst atmen mit metallener Lunge mit rostenden Rippen mit Adern aus alten Kabeln und dunklen Straßen nur Schatten die ihn erwarten als wären sie schon immer da gewesen er atmet ein er atmet aus doch die Luft ist dick wie Öl schwer wie Geschichte und Schuld seine Füße setzen auf ohne Laut sein Herz schlägt in einer anderen Frequenz als das Rauschen um ihn herum über ihm brennt kein Stern nur das kalte weiße Licht der Neonröhren das auf ihn herabsticht als wäre es ein allsehendes Auge ohne Lid ohne Gnade eine Sekunde vergeht oder eine Stunde oder ein ganzes Leben dann greifen die Hände nach ihm kalte Finger aus Metall Arme aus Gesetzen die sich beugen wie Draht doch nicht für ihn er wird gezogen durch Korridore ohne Türen ohne Fenster nur Fragen die sich selbst beantworten in der Stille nur Gesichter die keine Namen haben nur Stimmen die das Drehbuch längst auswendig kennen und wiederholen immer wieder immer wieder immer wieder so endet ein Märchen in den Händen des Großen Gopnik der in seinem Kreml thront wie ein Drache auf einem Berg aus Knochen sein grinsendes Maul dampft von warmem Tee sein Blick fährt über Landkarten auf denen keine Menschen mehr eingezeichnet sind nur Grenzen nur Linien nur Territorien als wären es Felder auf einem Schachbrett aus Eis und Blut er bläst den Rauch einer Zigarette in die Luft betrachtet die Asche wie fallende Schneeflocken irgendwo brennen Häuser in der Ukraine die Straßen sind leer außer für Panzer die langsam rollen wie eine Flut aus Eisen und Feuer Häuser ohne Fenster Dächer mit klaffenden Löchern eine Frau steht auf der Straße mit einem Kind auf dem Arm ihr Atem gefriert ihre Tränen auch aber der Hunger nicht der bleibt warm in ihren Mägen er brennt stärker als die Bomben die gefallen sind als das Licht das niemals wieder angehen wird denn irgendwo in der Ferne in einer toten Landschaft aus Beton und Stahl liegt ein Kraftwerk in Trümmern die Funken tanzen noch für einen Moment ehe die Dunkelheit alles verschluckt dann fällt Schnee über alles Schnee über Trümmer Schnee über Leichen Schnee über Hoffnungen und Kapitel 24 zieht sich wie eine Schlinge durch die Seiten Alexej geht Alexej fällt die Männer in Uniform sind da sie waren immer da der Film läuft in Endlosschleife ein Held kommt nach Hause und wird zur Geschichte ein Atemzug lang ein Symbol dann nur noch eine Nummer in einem Aktenstapel versiegelt verschlossen vergessen der Große Gopnik reibt sich die Hände die Fingerknöchel knacken wie Äste in der Kälte irgendwo in Sibirien verdunkelt sich der Himmel ein wenig ein eisiger Wind fährt durch die Baracken eine Stimme wird leiser wird Staub und in einer Zelle ohne Licht in einer Stadt ohne Namen frieren Männer auf blanken Holzpritschen ihr Atem malt Schatten an die Wände ihre Körper sind bloß Zahlen in einem System das keine Menschen kennt nur Schuldige nur Feinde nur Stimmen die eines Tages verstummen später viel später als das Buch schon in den Regalen liegt als die Worte sich schon in andere Gedanken geschlichen haben kommt die Nachricht aus dem Nichts und schlägt ein wie ein Meteorit in einen gefrorenen See Alexej Nawalny ist tot sagen sie aber was ist Tod wenn eine Geschichte weiterlebt was ist Ende wenn ein Name weitergeflüstert wird in den dunklen Straßen in den geflüsterten Gebeten derer die noch hoffen die Gefängnismauern stehen doch Iwan Zarewitsch reitet weiter durch die schwarzen Wälder in den weißen Nächten durch die kalten Straßen der Städte die sich nicht beugen irgendwo in einer anderen Zeit in einem anderen Russland das vielleicht eines Tages erwacht oder vielleicht nie Kapitel 3: Literarische Einflüsse Das groteske Erbe der russischen Literatur rumort in Viktor Jerofejews Werk. Er ist ein literarischer Sprengmeister. Seine Romane und Essays entfalten sich wie ein abgründiges Karnevalsfest, in dem Gewalt, Wahnsinn und Sarkasmus aufeinanderprallen. Doch sein Werk steht nicht im luftleeren Raum – es ist tief verwurzelt in der russischen und europäischen Literaturgeschichte. Sechs große Schriftsteller haben seinen Stil geprägt, und in jeder ihrer Figuren findet sich ein Echo von Jerofejews überdrehter Erzählweise. Jerofejew verbindet diese Einflüsse zu einem eigenständigen Stil, der zwischen Satire, Philosophie und radikaler Provokation schwankt. Viktor Jerofejew steht in der Tradition der russischen literarischen Avantgarde und des absurden Realismus. Seine wichtigsten Vorbilder und Einflüsse sind: 1. Der Teufel als Spielmacher Michail Bulgakow, besonders Der Meister und Margarita mit seiner Mischung aus Satire, Fantastik und Gesellschaftskritik hat Jerofejews Stil geprägt. Die groteske Darstellung der sowjetischen Realität und der spielerische Umgang mit dem Absurden finden sich auch in Jerofejews Werk wieder. Kaum ein Autor hat das Groteske so kunstvoll in die russische Literatur eingeflochten wie Michail Bulgakow. In Der Meister und Margarita stiftet der Teufel Woland mit seiner dämonischen Truppe in Moskau Chaos und entlarvt die Heuchelei der sowjetischen Gesellschaft. Jerofejew folgt diesem Vorbild, wenn er in Der Große Gopnik die russische Gegenwart als einen grotesken Zirkus inszeniert, in dem Macht und Anarchie verschwimmen. Seine Figuren sind oft teuflische Gestalten, die mit sadistischer Lust das System zerstören – nicht anders als Wolands Handlanger, der sprechende Kater Behemoth, der mit Pistolen schießt und Witze über die Hölle reißt. 2. Der Wahnsinn des Alltags Daniil Charms, der russische Avantgardist und Begründer des absurden Realismus hatte großen Einfluss auf Jerofejew. Seine kurzen, oft surrealen Texte voller Gewalt, Humor und Nihilismus spiegeln sich in Jerofejews fragmentarischer, oft grotesker Erzählweise. Der Meister des literarischen Absurden, hat eine Welt geschaffen, in der Menschen einfach verschwinden, sich auflösen oder von Fenstern stürzen – nicht aus dramaturgischen Gründen, sondern weil die Logik der Realität aufgehoben ist. Sein kurzer Text Ein gewisser alter Mann erzählt von einem Greis, der ohne Vorwarnung umfällt und stirbt – einfach so. Jerofejew nutzt dieses Prinzip der plötzlichen, sinnlosen Gewalt in vielen Szenen seines Werks. In Der Große Gopnik wird eine Nebenfigur mitten im Satz erschlagen, als wäre sie eine lästige Fliege – das Leben in Russland ist eben zufällig, brutal und ohne Mitleid. 3. Gogols verlorene Seelen Nikolai Gogol – Vor allem die satirische Überzeichnung von Charakteren und die absurde Darstellung von Bürokratie und Machtstrukturen erinnern an Gogols Stil. Niemand hat die absurde Bürokratie des zaristischen Russlands so als Farce entlarvt wie Nikolai Gogol. In Die Nase wacht ein Beamter auf und stellt fest, dass seine eigene Nase verschwunden ist – und noch schlimmer: Sie läuft frei durch St. Petersburg und macht Karriere. Die groteske Machtlosigkeit des Menschen gegenüber einem undurchsichtigen System ist ein Thema, das Jerofejew weiterführt. Seine Figuren kämpfen nicht gegen Geister oder Dämonen, sondern gegen eine russische Realität, die ebenso unberechenbar und verhöhnend ist wie Gogols überzeichnete Bürokraten. 4. Dostojewskis Dämonen Fjodor Dostojewski – Besonders die psychologische Tiefe und das existenzielle Ringen mit Moral, Schuld und Chaos in Werken wie Der Idiot oder Die Dämonen haben Jerofejews düstere, philosophische Reflexionen seiner zerrissenen, russischen Seele beeinflusst. Wenn es eine literarische Tradition gibt, die den inneren Abgrund des Menschen beleuchtet, dann ist es die von Fjodor Dostojewski. In Die Dämonen wird ein revolutionärer Mord zu einer Farce, weil die Täter selbst nicht wissen, ob sie für das Richtige kämpfen oder einfach nur morden. Jerofejew setzt diese Tradition fort, indem er Figuren erschafft, die zwischen Größenwahn und Nihilismus taumeln. In Der Große Gopnik wird ein Kleinganove plötzlich zum Politiker – nicht, weil er überzeugt ist, sondern weil die Umstände ihn in diese Rolle treiben. Wie Dostojewskis Kirillow, der sich umbringen will, um seine absolute Freiheit zu beweisen, stolpert Jerofejews Held von einer existenziellen Katastrophe in die nächste. 5. Das Trinken als Philosophie – Wenedikt Jerofejews Vermächtnis Wenedikt Jerofejew (keine Verwandtschaft), der Autor des Kultromans Moskau – Petuschki hinterlies mit seiner alkoholgetränkten, poetischen und tragikomischen Prosa ein Vermächtnis, ein literarisches Bild der sowjetischen und post-sowjetischen Verwahrlosung, was auch in Der Große Gopnik präsent ist. Ein Autor, mit dem er oft verwechselt wird, ist Wenedikt Jerofejew, der in Moskau – Petuschki einen betrunkenen, melancholischen Erzähler durch die sowjetische Provinz taumeln lässt. Sein Held philosophiert über Liebe, Macht und Alkohol, während er sich mit Spiritus betrinkt. Auch Viktor Jerofejews Protagonisten sind häufig Alkoholiker, doch bei ihm schlägt die Trunkenheit in blanke Gewalt um. Wo Wenedikt Jerofejew noch eine tragikomische Poesie findet, zeichnet Viktor Jerofejew eine entmenschlichte Welt, in der das Trinken nicht mehr Rebellion, sondern nur noch Überleben ist. 6. Kafka und Sartre Franz Kafka und Jean-Paul Sartre – Die Absurdität des Daseins und das Gefühl der existenziellen Verlorenheit, die in ihren Werken eine zentrale Rolle spielen, resonieren bei Jerofejew, wenn er die russische Gesellschaft als eine Art absurdes Theater beschreibt. Lassen Sie mich die berühmte Aussage „Die Hölle, das sind die anderen“ von Jean-Paul Sartre insertiere. Diese steht im Zentrum seines Theaterstücks Geschlossene Gesellschaft (Huis clos, 1944). Sie ist ein Grundstein existenzialistischer Philosophie. Damit meint Sartre nicht, dass andere Menschen per se schrecklich sind, sondern dass unser Selbstbild durch den Blick und das Urteil anderer entsteht – und das kann zur Qual werden. Wir sind in gewisser Weise „Gefangene“ im Blick der anderen, die uns festlegen, definieren, beurteilen. Und wo kommt Kafka ins Spiel? Franz Kafka hat diesen Gedanken – auf seine Weise – literarisch vorweggenommen oder parallel ausgedrückt. Zwar hat er nicht explizit oben genannten Satz gesagt, aber viele seiner Werke zeigen, wie das Ich durch äußere (meist anonyme, absurde oder undurchschaubare) Instanzen bedrängt und entmenschlicht wird. Zum Beispiel in Der Prozess : Josef K. wird verurteilt, ohne zu wissen warum – der Einzelne steht einem fremden System gegenüber, das ihn beurteilt und vernichtet. Der gemeinsame Nenner: Bei Sartre ist die Hölle der soziale Blick, das ständige Gesehen- und Bewertetwerden, bei Kafka ist es oft die unergründliche Macht des Systems oder der Gesellschaft, die das Individuum zermalmt. In beiden Fällen verliert sich der Mensch selbst durch die Macht, die „die anderen“ über ihn ausüben. Diese Impulse aus der europäischen Literatur bewirken, daß seine Helden oft fassungslos vor einer Realität stehen, die sie nicht verstehen, aber ertragen müssen. Kapitel 4: Eine Karikatur des russischen Daseins Viktor Jerofejews Der Große Gopnik zeichnet sich durch einen provokanten, satirischen und absurden Schreibstil aus. Sein Erzählen ist oft fragmentarisch, überdreht und voller grotesker Überzeichnungen. Er nutzt eine lakonische, aber zugleich poetische Sprache, die zwischen vulgärer Direktheit und philosophischer Reflexion schwankt. Dabei spielt er mit Exzessen, derber Komik und surrealen Bildern, um gesellschaftliche und politische Missstände in Russland zu entlarven. Er arbeitet mit einer Mischung aus schwarzem Humor, existenzieller Verzweiflung und einer gewissen spielerischen Resignation. Sein Stil erinnert an eine Mischung aus russischem Underground, postmoderner Satire und absurdem Theater. Besonders prägnant ist seine Art, die russische Realität als eine Art grotesken Karneval darzustellen, in dem Gewalt, Macht und Chaos sich zu einer absurden Farce verdichten. Sein Werk ist ein Spiegel, in dem sich nicht nur Russland, sondern die gesamte moderne Welt in ihrer Absurdität erkennt – und dabei vielleicht sogar lacht, wenn auch bitter. Viktor Jerofejew, Der Große Gopnik: Roman, 624 Seiten, Matthes & Seitz, Berlin; 4. Edition, 2023 https://amzn.eu/d/5EhdiAV Grafik © IndEx 2025